01.12.2021 - Nele Justus -9 MinutenMitarbeiter finden
Der Autist Raimund Magg absolviert beim Apothekengroßhändler NOWEDA in Rastede eine Ausbildung. Ein Glücksgriff für beide, wie er und die Personalleiterin erzählen
„Eine Bereicherung, keine Belastung“
Tatjana Börger, 35, ist Personalleiterin bei NOWEDA.
Faktor A: Was wussten Sie über das Autismus-Spektrum, bevor Raimund zu Ihnen kam?
Tatjana Börger: Das war bei mir wahrscheinlich wie bei den meisten Leuten: Man hat so ein Bild aus Filmen und Dokumentationen, bei denen man Menschen mit Inselbegabungen sieht, die ein Buch lesen und es dann hinterher auswendig können. Und die keine Gefühle lesen können. Das war auch mein Vorurteil.
Und wie hat sich das verändert, seit Raimund da ist?
Das Bild hat sich um 180 Grad gedreht. Es gilt der Satz: Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten. Nicht ohne Grund spricht man ja von einer Autismus-Spektrum-Störung. Da zeigt schon der Begriff, dass es von minimalen bis hin zu extremen Einschränkungen alles gibt. Raimund ist total witzig, er hat einen guten Humor, und er erkennt Gefühle. Nur manchmal ist er eben recht plump. Ihm ist wichtig, dass er das rauskriegt, was er im Kopf hat. Aber genau das finde ich super. So weiß man immer, woran man ist. Und man kann sich stets darauf verlassen, dass er einem die Wahrheit sagt. Das ist total erfrischend und verändert Dinge oft positiv.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Kürzlich waren wir auf einer Jobmesse in Oldenburg. Da stand ich mit dem Rücken zum Gang und habe einem Azubi etwas erklärt. Und dann kam Raimund zu mir und meinte: „Du, Tatjana, ich glaube, das ist nicht so gut, was du da machst. Du stehst hier wild gestikulierend mit dem Rücken zu den Leuten, da fühlen die sich doch abgeschreckt und trauen sich gar nicht an den Stand, weil sie denken, sie stören.“ Das war ein sehr gutes Feedback, denn Raimund hatte einfach recht. Kein anderer würde sich das in dieser Direktheit trauen.
Zitat:"Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten."
Wussten Sie schon beim Vorstellungsgespräch, dass Raimund ein Autist ist?
Nein, das ging nicht so klar aus seiner Bewerbung hervor. Ich hatte in seiner Bewerbungsmappe aber gelesen, dass er zuletzt beim Berufsbildungswerk war. Das kam mir schon ein bisschen komisch vor, weil er ja vorher auch studiert hatte. Als er beim Vorstellungsgespräch vor mir saß, war mir schnell klar, dass er irgendeine Beeinträchtigung hat.
Wieso?
Er nuschelte ein bisschen, hatte eine zusammengesackte Körperhaltung. Im Gespräch war er sehr nervös und wippte auf seinem Stuhl vor und zurück. Und den Blickkontakt konnte er auch nicht gut halten. Relativ zügig sagte er: „Ich lass’ jetzt mal die Bombe platzen.“ Dann erzählte er, dass er Asperger-Autismus hat und deshalb manchmal etwas stumpf daherkommt. Dass er so offen und ehrlich war, fand ich super. Und ich habe beschlossen, das gucke ich mir an. Ich finde es wichtig, in einer Firma die ganze Gesellschaft abzubilden. Und da gehören Menschen mit Behinderung auch dazu. Wir haben Raimund ein Praktikum angeboten. Das müssen alle absolvieren, die später bei uns eine Ausbildung machen wollen.
Wie hat Raimund im Praktikum gepunktet?
Bei der Inventur. Er hatte uns erzählt, dass Mathe sein Ding wäre. Das wollten wir testen. Wir schickten ihn im Team mit einem Kollegen los. Und er hat tatsächlich weniger Fehler gemacht als der Kollege mit Taschenrechner.
Was sind Raimunds Stärken und Schwächen?
Er sieht die Fehler und ist sehr genau. Manchmal ist er dadurch aber auch langsamer als andere. Bei uns in der Kommissionierung ist das mitunter etwas schwierig, weil wir „just in time“ arbeiten. Oft vergehen nur ein bis zwei Stunden vom Auftrag aus der Apotheke bis zu der Zeit, wann der Fahrer mit den Waren losfahren muss. Aber wir bilden Raimund nicht aus, damit er später Kommissionierer wird, sondern weil wir ihn in einer Fachabteilung zur Fehleranalyse einsetzen wollen – genau da ist er super drin.
Haben Sie die direkten Kollegen vor Raimunds Einstieg über seine Beeinträchtigung informiert?
Ich habe einen Aushang gemacht, auf dem stand, dass wir einen Praktikanten bekommen, der Autist ist. Und dann habe ich eine Infoveranstaltung gemacht.
Kommen denn alle Kollegen mit seiner Art gut klar, oder gibt es da Probleme?
Die meisten wissen ihn so zu nehmen, wie er ist. Aber natürlich gab es schon Situationen, wo sich Kollegen angegriffen gefühlt haben. Viele können direkte Kritik eben nicht gut verarbeiten. Dann habe ich Raimund zur Seite genommen und ihm gesagt: „Da bist du jetzt übers Ziel hinausgeschossen“ oder: „Arbeite bitte an deinem Tonfall“. Das hat er für sich aufgenommen und danach gehandelt. Er ist dann auf die Kollegen zugegangen und hat sich entschuldigt.
Brauchte Raimund irgendeine Unterstützung für seinen Arbeitsplatz?
Nein, das lief alles reibungslos. Wir bekommen vom Integrationsamt einen Zuschuss, aber das ist nicht der Grund, warum wir ihn eingestellt haben. Raimund ist für uns ein Gewinn durch und durch.
Werden Sie Raimund übernehmen?
Ja, wir wären ja schön blöd, wenn wir den gehen lassen. Raimund ist top. Er kommuniziert, er berichtet über Ergebnisse, er reicht mir regelmäßig seine Berichtshefte ein, er ist pünktlich und immer zuverlässig. Und er ist sehr motiviert und dankbar für die Chance, die er bekommen hat. Wenn es Zusatzarbeiten gibt, ist er der Erste, der die Hand hebt und macht. Prinzipiell sprechen wir allen Azubis eine Übernahmegarantie aus, wenn sie ihre Abschlussprüfung mit Eins oder Zwei machen. Raimund hat seine Zwischenprüfung mit einer Eins abgelegt. Da sehe ich also keine Schwierigkeiten.
Viele Unternehmen scheuen sich davor, Menschen mit Autismus einzustellen. Können Sie das nachvollziehen?
Vielleicht ist das ein kulturelles Problem. Wir haben Angst vor Neuem und äußern ganz schnell unsere Befürchtungen, anstatt zu sagen: „Hey, das ist spannend, das könnte eine Chance sein.“ Ich würde Unternehmen ans Herz legen wollen, neue Wege zu beschreiten, um positive Erfahrungen machen zu können. Gerade als Personaler muss man mit der Zeit gehen. Wir alle spüren den Fachkräftemangel deutlich. Da müssen wir uns neue Arbeitnehmerquellen erschließen. Und ob das nun Menschen mit Behinderung sind, die über den zweiten Arbeitsmarkt (Anm. d. Red.: mithilfe von öffentlichen Fördermitteln geschaffene Arbeitsplätze, z. B. Werkstätten für behinderte Menschen) kommen, Umschüler oder Geflüchtete – da sollten wir offen sein. Und wie das Beispiel Raimund zeigt, ist das Ergebnis großartig.
Was würden Sie also anderen Unternehmen raten?
Testet das. Lernt die Leute kennen und schaut, ob ihr zueinanderpasst. Gerade Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung einzustellen ist für viele Unternehmen eine Bereicherung und keine Belastung.
Scheint die Aufgabe also größer, als sie eigentlich ist?
Absolut! Jeder Personaler hat Problemfälle in seinem Unternehmen. Menschen, die nach langer Krankheit wieder eingegliedert werden müssen oder deren Arbeitsplatz man anpassen muss. Als Personaler ist man ein Problemlöser. Und ein Autist bringt nicht mehr Probleme mit sich als ein anderer Mitarbeiter auch.