06.12.2017 - Esther Werderinghaus -5 MinutenMitarbeiter finden
Mit 24 Jahren hat Michael Lau einen schweren Unfall. Als er aus dem Koma erwacht, ist er gelähmt. Lau kämpft, schult um und bekommt einen Job bei VW.
Im August bin ich 30 Jahre alt geworden. Dass ich diesen Geburtstag überhaupt erlebt habe, habe ich ein paar Kumpels zu verdanken. 2011 waren wir auf einer Feuerwehrveranstaltung und hatten im Anschluss einen Pokerabend geplant. Es war ein warmer Sommertag im Juli. Vor der Pokerrunde wollten wir uns noch im privaten Gartenpool abkühlen. Dort habe ich einen Kopfsprung in den Pool gemacht, und dabei habe ich mir den fünften Halswirbel gebrochen. Meine Kumpels haben den Unfall gar nicht gesehen, sie kamen gerade um die Ecke, als es passiert war, und zogen mich raus. Fünf Tage lag ich im künstlichen Koma. Ein paar Tage später wurde ich in eine Klinik nach Hamburg verlegt. Ich konnte mich gar nicht bewegen, aber erst als ich dort das Schild „Querschnittsgelähmten-Zentrum“ sah, ist bei mir der Groschen gefallen.
Ich bin inkomplett gelähmt und habe noch Gefühl von Kopf bis Fuß. Anfangs konnte ich nicht mal meinen Kopf halten. Ich musste trainieren, auch um meine Arme wieder bewegen zu können. Zehn Monate war ich in Hamburg, zwei Monate davon wurde ich künstlich beatmet. Nach und nach bin ich von der Maschine abgenommen worden. Erst zehn Minuten ohne Beatmung, dann 15 Minuten, dann eine Stunde, dann ein ganzer Vormittag … Ich bin ein Typ, der nach vorne guckt, habe immer weitergemacht. Wie man so eine Situation annimmt, kann man vorher nicht sagen. Viele fallen in ein großes Loch. Ich selbst hatte nur eine Handvoll Tage, an denen es mir richtig schlecht ging.
Umschulung zum Kaufmann
Die ganze Zeit über war ich krankgeschrieben, ein Dreivierteljahr lang. Danach habe ich mit meinem Arbeitgeber Kontakt aufgenommen. Bei Volkswagen hatte ich von 2004 bis 2007 meine Ausbildung zum Industriemechaniker gemacht und dann als Anlagenführer im Schichtdienst gearbeitet. Ich hatte die automatisierte Produktion an den CNC-Dreh- und Fräsmaschinen überwacht. Nachdem ich die Klinik verlassen konnte, habe ich mich mit der Personalabteilung, dem Betriebsrat und der Schwerbehindertenvertretung zusammengesetzt. Seitens VW kam das Angebot: Herr Lau, wenn Sie eine Umschulung machen, können wir Sie weiterbeschäftigen.
Über meine Tante habe ich Kontakt zu einem Mann bekommen, der vor zwanzig Jahren dasselbe durchgemacht hat wie ich. Er ist Rollstuhlfahrer und hatte beim Berufsförderungswerk Bad Wildbad eine Umschulung zum Kaufmann gemacht. Ich habe mich darüber weiter informiert, dann dort eine Reha gemacht und 2013 selbst eine Umschulung in Bad Wildbad begonnen. Dazu war viel Eigeninitiative nötig. Die Rentenversicherung, die das letztlich finanziert hat, wollte mich zuerst verrenten. Aber mit 24 Jahren Rentner zu werden – das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Ich schaltete einen Anwalt ein, trotzdem zog sich die Entscheidung hin. Allein zwischen meiner Entlassung aus dem Krankenhaus und dem Beginn der Reha verging fast ein Jahr. Das war keine einfache Zeit.
Meine Wohnung im zweiten Stock musste ich aufgeben. Auch bei meinen Eltern konnte ich nicht wohnen, weil ihr Reihenhaus nicht behindertengerecht ist. Ich war dann ein Dreivierteljahr im Pflegeheim. Dort hatte ich Narrenfreiheit, es war egal, ob ich den ganzen Tag unterwegs war und erst um 1 Uhr nachts zurückkam, die Pflegerinnen haben mir ins Bett geholfen. Das Pflegeheim war nur zehn Minuten von meinem Elternhaus entfernt, deshalb war ich viel dort oder mit Freunden unterwegs. Ich habe mir ein Handbike gekauft, mit dem ich lange Touren unternehme, ich besuche Konzerte und habe eine Dauerkarte für den VfL Wolfsburg. Ich mache das, was jeder andere auch macht. Manchmal kriege ich auf Konzerten sogar bessere Plätze, und eine Begleitperson kann umsonst mitkommen.
Vollzeit bei Volkswagen
Inzwischen arbeite ich Vollzeit, 35 Stunden in der Woche. Ich bin in der Entgeltberechnung von VW tätig. Wenn ein Mitarbeiter Fragen zu seinem Lohn hat oder eine Bescheinigung ausgefüllt werden muss, wendet er sich an uns. Während meiner Umschulung hatte ich ein Praktikum in der Abteilung gemacht. Dabei habe ich einen so guten Eindruck hinterlassen, dass mein Abteilungsleiter mich gerne in seine Abteilung übernehmen möchte. Alles ist hier barrierefrei, es gibt Automatiktüren und eine Behindertentoilette. In meiner Abteilung sind etwa zwanzig Kollegen, in der gesamten Entgeltabteilung arbeiten etwa 100 – zusammen betreuen wir über 200.000 Mitarbeiter. Mit meiner Behinderung gehe ich offen um. Ich habe den Kollegen gleich am Anfang gesagt, dass ich keine Tabus kenne und sie mich alles fragen können.
Anfangs waren die Kollegen zu hilfsbereit. Wenn man fünfmal am Tag gefragt wird, ob man Hilfe braucht, ist das nett gemeint, aber anstrengend. Alles, was ich alleine schaffe, mache ich auch alleine. Die Maus am Bürocomputer bediene ich mit links, weil ich da noch Fingerfunktion habe. An der rechten Hand benutze ich eine Tipphilfe, weil meine Finger dort schlaff sind und keine Funktionen haben. Eine Plastikhalterung sorgt für Stabilität und ermöglicht es mir, auf der Tastatur zu tippen. Damit bin ich schneller als manche Kollegen, die mit zwei Fingern auf der Tastatur schreiben und die Buchstaben suchen müssen. Hilfe von Kollegen brauche ich nur beim Briefeeintüten. Das kriege ich feinmotorisch nicht hin. Sonst mache ich alles selbst. Ich sage den Leuten, dass ich schließlich nicht auf den Kopf gefallen bin – bis auf das eine Mal … Dieser schwarze Humor kommt bei meinen Kollegen gut an.
VW-Bus sorgt für Mobilität
Ich bin froh, dass ich durch meine Arbeit rauskomme und unter Menschen bin. Es ist schön, wenn man sein eigenes Geld verdient. Während meiner Umschulung habe ich einige Leute kennengelernt, die anschließend keinen Job gefunden haben, weil Arbeitgeber vor Umbauarbeiten zurückgescheut haben oder Sorge hatten vor Komplikationen oder Krankheiten. Es gab aber auch andere Fälle. Ein Mann, der zusammen mit mir in der Klinik lag, hat eine Ausbildung gemacht und arbeitet nun mit Mundsteuerung. Er ist noch ganz jung – gerade erst 25 Jahre alt geworden – und heilfroh über seine Teilzeitstelle.
Mit meiner Behinderung habe ich mich abgefunden. Was wirklich stört, ist, dass man nicht mehr so spontan und flexibel ist wie früher. Übernachtungen zu organisieren ist schwierig. Denn normalerweise hilft mir morgens ein Pflegedienst bei der Grundpflege, und auch abends beim Ausziehen benötige ich Hilfe. Aber durch mein eigenes Auto bin ich schon viel mobiler geworden. Es ist ein umgebauter VW-Bus mit Schiebetür. Mit der rechten Hand kann ich Gas geben und bremsen, mit links lenke ich und bediene die Funktionstasten. Noch wohne ich in einer behindertengerechten Wohnung zur Miete. Aber mein privates Ziel ist es, eine Familie zu gründen, ein Grundstück zu kaufen und ein Haus zu bauen – oder bauen zu lassen.