Physik - oder die Kunst, das Fürchten zu lehren

Ende der 90er Jahre schien für Sascha* die Welt noch in Ordnung: Das Abitur hatte er bestanden, ein Jahr später bekam er den ersehnten Studienplatz für Physik und legte los.

Bald musste der junge Mann jedoch erkennen: Dieses Studium war wohl doch die falsche Wahl. Statt für die Naturwissenschaften begeisterte er sich immer mehr für das, was eigentlich als Nebenjob zur Aufbesserung der Haushaltskasse gedacht gewesen war, die Schauspielerei.

Jahrelang lebte Sascha in zwei Welten, bis er dem Studium 2010 endgültig Adé sagte – ohne Abschluss. Mit diversen Helfertätigkeiten finanzierte er auch weiterhin seinen Lebensunterhalt. Sascha saß an der Kasse eines Veranstaltungsparks, arbeitete als technischer Betreuer für Sound- und Showeffekte bei Videoproduktionen, half in der Veranstaltungstechnik aus. Er verdiente Geld auf Musikfestivals in Deutschland und Österreich sowie als Servicekraft, Bauhelfer oder Dachdeckergehilfe. Zwischendurch bekam er immer wieder Rollen als Kleindarsteller in Filmen, Musicals und auf Partys.

Fünf Jahre ging das so und Sascha war mit seinem Leben ganz zufrieden. Mittlerweile hatte er eine feste Stelle gefunden. Dem ehemaligen Physikstudenten war es gelungen, mit seiner Leidenschaft seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Was wollte er mehr?

Das böse Erwachen kam, als die Firma, bei der Sascha beschäftigt war, verkauft wurde, und er die Kündigung erhielt. Der begeisterte Darsteller aus dem Gruselkabinett sah sich plötzlich an einem Abgrund stehen, der nicht aus Pappmaché, sondern bittere Realität war: Ende Dreißig, ohne abgeschlossene Ausbildung mit langjährigen Erfahrungen und einer Leidenschaft für einen Beruf, bei dem die Stellenangebote an einer Hand abzuzählen sind.

Kurz vor Weihnachten 2016 wurde Sascha ans Inga-Team Berlin Mitte überstellt. Bereits während des ersten persönlichen Gesprächs erkannte die Integrationsberaterin, dass eine Umorientierung auf die Naturwissenschaften oder gar eine Wiederaufnahme des Studiums für Sascha keine Option waren. Der leger gekleidete, zurückhaltende Mann lebte auf, sobald er von seiner Arbeit in der Welt der Gruselkabinette, Horrormasken und als Darsteller berichtete. Alle anderen Jobs würden nicht von Dauer sein.

Drei, vier potenzielle Arbeitgeber, mehr waren selbst in einer Stadt wie Berlin nicht zu finden. Die Zahl der Konkurrenten um die wenigen freien Stellen war angesichts der vielen professionellen Schauspieler, die in Berlin nach einer Beschäftigung suchen, umso größer.
Also galt es, die langjährigen Erfahrungen und die Motivation, die Sascha für diese Arbeit mitbrachte, ins Blickfeld des Arbeitgebers zu rücken. Im Rahmen eines Tagesseminars, das von den Inga-Beratern selbst durchgeführt wird, lernte Sascha seine Bewerbung auf den Punkt zu bringen.

Ein passendes Stellenangebot gerade bei dem Arbeitgeber, der auf seiner Wunschliste ganz oben stand, hatte Sascha bereits mitgebracht. Doch sich wirklich zu bewerben, dazu fehlte dem Enddreißiger der Mut. Denn im Falle einer Ablehnung wäre diese Firma für ihn die nächsten Jahre Tabu.

Es bedurfte intensiven persönlichen Zuspruchs, bevor Sascha seine Bewerbungsunterlagen schließlich abschickte. Die Integrationsberaterin wies ihn immer wieder auf seine Stärken hin und zeigt ihm Alternativen für den Fall einer Ablehnung auf. Letztendlich haben sich Saschas Mut und der Aufwand gelohnt. Er hat die Stelle bekommen. Gut drei Monate, nachdem er das erste Mal im Inga-Team vorgesprochen hatte, heuerte Sascha an. Zunächst bedient er ein Fahrgeschäft doch schon bald wird er wohl als festangestellter Darsteller seine neuen Kunden das Gruseln lehren.

 

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.