Ein junger Mann mit grauem Shirt sitzt in einem hellen modernen Büro vor zwei Bildschirmen. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Auf den Zweiten schon. Die große Brailletastatur mit Braillezeile verraten es. Christopher Proß ist blind.
Seine Finger fahren lesend über die schnell wechselnde Punktschrift der Braillezeile. Auf dem Bildschirm ist zu erkennen, was er in Brailleschrift, der Blindenschrift, liest. „Böhmische Dörfer“ sind es wohl für die meisten, für Proß ist es sein täglich´ Brot. Er ist Programmierer bei der Firma medDV in Fernwald.
„Niemals unterkriegen lassen“: So lautet das Motto von Christopher Proß am Ende des Gesprächs. Diese Lebenseinstellung nimmt dem offenen und selbständigen jungen Mann jeder sofort ab.
Als Frühchen geboren, wurden seine Augen nicht vollständig entwickelt. Mit drei Jahren erblindete er vollständig. Ein Leben ohne Augenlicht ist für Proß Alltag. Als Jugendlicher entdeckte er seine Begeisterung für den Computer. Als Sehbehinderter kommt man um den PC nicht drum herum, erklärt Proß. Schule, Freizeit; vieles findet am Computer statt. So auch seine Ausbildung zum Fachinformatiker an der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. in Marburg. Proß zog dafür aus dem Schwarzwald nach Mittelhessen. Die Naturwissenschaft hätte ihn auch sehr gereizt, bemerkt Proß. Hier hatte er jedoch Bedenken in Punkto Barrierefreiheit. „Der PC ist derzeit einfach die barrierefreiste Beschäftigung für Blinde“, resümiert der junge Mann abschließend seine Berufswahlentscheidung.
Das dieser Entschluss genau der richtige war, findet nicht nur er, sondern auch sein Bereichsleiter bei der Firma medDV, Christian Mazzotta: „Christopher geht sehr offen mit seiner Behinderung um. Wir sprechen einfach über alles. Deshalb gibt es bei uns keine Probleme sondern Herausforderungen“.
Als Marktführer mit über 80 Mitarbeitenden erarbeitet das Unternehmen am Standort Fernwald Lösungen um Prozesse der Dokumentation und Kommunikation im Rettungswesen zu optimieren.
Da medDV ein schnell wachsendes Unternehmen ist, sind gut ausgebildete Mitarbeitende ein hohes aber leider rares Gut. „Wer Interesse an IT und Gesundheit hat, ist bei uns an der richtigen Adresse. Wichtig ist, dass es menschlich passt, da spielt es keine Rolle welche körperliche Einschränkung jemand hat“, fasst Mazzotta den Fachkräftebedarf des Unternehmens kurz zusammen.
Gepasst hat es auch zwischen Proß und der medDV im Frühjahr vergangenen Jahres. Der sehbehinderte junge Mann hat sich nach der Ausbildung noch an einem Studium der Informatik probiert, wegen „zu viel Theorie“ dann aber abgebrochen. In der Arbeitsagentur Gießen ist Nicole Feld-Götz, Ansprechpartnerin des Unternehmens, nach Erfassung einer vakanten Arbeitsstelle als Informatiker/in auf den arbeitslosen Christopher Proß aufmerksam geworden. „Fachlich hat er alle Kriterien erfüllt. Die Blindheit war für mich keinen Grund ihn dem Unternehmen nicht vorzuschlagen. Es gibt Hilfen um einen Arbeitsplatz barrierefrei auszustatten sowie weitere Fördermöglichkeiten“, erinnert sich Feld-Götz. „Die Firma medDV war sofort interessiert und nach einem kurzen Praktikum stand fest: Es gibt einen weiteren Informatiker im Unternehmen.“
Als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben, wurde der Arbeitsplatz blindentechnisch mit einer Brailletastatur ausgestattet und für die Einarbeitungsphase erhielt der Arbeitgeber einen Eingliederungszuschuss. Die blindentechnische Ausstattung wurde von der Arbeitsagentur Gießen gezahlt. Einen Eingliederungszuschuss für schwerbehinderte Menschen erhält der Betrieb für die erhöhte Einarbeitungszeit.
„Die Arbeitsagentur unterstützt schwerbehinderte Menschen beim Berufseinstieg oder Wiedereinstieg und zeigt Fördermöglichkeiten für Unternehmen auf. Die Geschichte von Christopher Proß zeigt einmal mehr, wie bereichernd die Beschäftigung von Menschen mit einer Schwerbehinderung sein kann. Neben dem Mehrwert für die Zusammenarbeit im Betrieb, liegt darin auch eine besondere Chance für den Arbeitgeber, dem Fachkräftemangel zu begegnen“, erklärt Eckart Schäfer, Leiter der Arbeitsagentur Gießen.
Seit mehr als 1,5 Jahren kümmert sich Proß nun um Rettungsdienste und Kliniken, die als Endkunden die Rettungssoftware seines Arbeitgebers nutzen. Er berät, beantwortet Fragen und hilft bei Störungen. Ist er nicht als Berater und Problemlöser im Einsatz, programmiert er. Im Kontakt mit externen Kunden benötigt Proß Hilfe durch den internen Support. Die Kolleginnen und Kollegen vom Support sind in der Remoteunterstützung mit dem Kunden seine Augen und Hände, denn barrierefrei kann er nur innerhalb des Unternehmens arbeiten und das gelingt nach Ansicht von Proß und seinem Vorgesetzten problemlos und vorbildlich.
„Ich wurde hier sehr offen empfangen“, erinnert sich Christopher Proß an die erste Zeit im Unternehmen. „Ein paar wenige Kolleginnen und Kollegen waren unsicher und hatten Bedenken etwas Falsches zu sagen oder zu fragen. Aber ich habe die bestehenden Barrieren schnell abgebaut. Meine Blindheit ist Teil meines Lebens. Ich gehe damit ganz normal um und ich glaube das signalisiere ich auch meinem Gegenüber“.
Barrieren im zwischenmenschlichen ergeben sich nach Meinung von Proß nur durch Klischees und Missverständnisse. Schon früh musste er lernen, nach Hilfe zu fragen und die Hilfe auch anzunehmen. Hier hat er fast immer gute Erfahrungen machen dürfen, sowohl an der Arbeit als auch in der Freizeit.
Schwierigkeiten treten häufiger in den praktischen Abläufen auf. Von der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, übers Einkaufen bis hin zu Formalitäten. Hier ist der junge Mann auf Hilfe aus dem Freundes- oder Kollegenkreis angewiesen. „Auch heute habe ich wieder zwei Schriftstücke dabei. Ich kenne weder die Adressaten noch den Inhalt. Ich kann es ja nicht lesen. Aber meine Kollegen helfen mir. Die kennen das schon“, schmunzelt Proß. „Vieles ist einfach nicht digital verfügbar. Dadurch tuen sich in meinem Alltag immer wieder Hürden auf.“
Stolpersteine im Betrieb gibt es natürlich ebenfalls. Aber durch offene Kommunikation und ein wenig Erfindergeist konnten diese schnell aus dem Weg geräumt werden. „Christopher spricht Hindernisse an, dann setzen wir uns zusammen und finden gemeinsam Lösungen. Das gehört ganz selbstverständlich zu unserem Miteinander“, erklärt Mazzotta.
So erfasst Proß seine Arbeits- und Urlaubszeiten eigenständig auf seinem Handy, da er das moderne Touch-Zeiterfassungssystem nicht bedienen kann. Auch das Touch-Display am Kaffeevollautomaten mit einer großen Auswahl an Kaffeespezialitäten macht es ihm unmöglich die richtige Kaffeewahl zu treffen. Hier improvisierten die Kolleginnen und Kollegen schnell, pragmatisch und vor allem kreativ. Das Display ist nun verziert mit kleinen Gumminoppen. Jeder Kaffee hat nun seine eigene Gumminoppe, die der sehbehinderte Kollege nun zuverlässig ertasten kann. Ein tolles Beispiel für gelebte Inklusion.
Hintergrund:
Am 3. Dezember 2022 ist der internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Die Bundesagentur für Arbeit wirbt rund um diesen Tag dafür, Menschen mit Behinderung die gleichen Chancen einzuräumen wie allen anderen. Die Stärken Schwerbehinderter Menschen sollen in den Fokus gerückt werden.
Von Oktober 2021 bis Oktober 2022 sank die Zahl der Arbeitslosen bundesweit um 10 Prozent, von 2,67 auf 2,39 Millionen. Die Zahl der Arbeitslosen mit Schwerbehinderung sank im gleichen Zeitraum nur um ca. 5 Prozent, von 174 auf 164 Tausend.
Im Bezirk der Arbeitsagentur Gießen waren 17.084 Menschen im Oktober 2022 erwerbslos gemeldet. Darunter waren 8,1 Prozent oder 1.382 Schwerbehinderte Menschen. Im Oktober des Vorjahres waren 857 Erwerbslose weniger gemeldet. Im Oktober 2021 waren 163 Schwerbehinderte Menschen mehr gemeldet.
Für die Beschäftigung Schwerbehinderter können Arbeitgeber verschiedene finanzielle Hilfen erhalten. Von Eingliederungszuschüssen, über Zuschüsse zur Ausbildungsvergütung bei Aus- und Weiterbildung bis hin zur behindertengerechten Ausgestaltung des Arbeitsplatzes. In der Arbeitsagentur Gießen berät Heiko Knorr unter der Rufnummer 0641 – 9393 302.