Stolz präsentiert Stefanie Holdenried ihren Arbeitsplatz im bischöflichen Ordinariat in Augsburg – der auf den ersten Blick gar nicht so viel anders aussieht, wie ein normaler Büroarbeitsplatz. Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man: die Tastatur ist dicker, da unter der „normalen“ Tastatur auch noch eine Leiste für die Braille-Schrift angebracht ist. Und bei der üblich wirkenden oberen Tastatur sind die Buchstaben mit Erhebungen gekennzeichnet, die es der Unterallgäuerin aus der Gemeinde Eheim ermöglichen, die Buchstaben voneinander zu unterscheiden. Denn: die junge Frau ist fast blind. „Ich bin ein Frühchen und in der 25. Schwangerschaftswoche geboren. Bei der Beatmung im Krankenhaus wurde ein Fehler gemacht und dadurch meine Netzhaut so geschädigt, dass ich auf einem Auge völlig blind bin und auf dem anderen nur noch Hell-Dunkel und große Umrisse erkennen kann“, erzählt sie. „Heute könnte man so etwas behandeln und verbessern – zur Zeit meiner Geburt gab es diese Möglichkeit noch nicht und nachträglich ist es nun zu spät dafür.“ Trotz ihrer gravierenden Sehbehinderung erledigt sie seit ihrer Einstellung im Januar 2023 als Assistentin des Inklusionsbeauftragten alle anfallenden Arbeiten. „Frau Holdenried kümmert sich um die Emailbearbeitung, die Organisation von Terminen, führt Telefonate und schreibt Protokolle“, zählt ihr Vorgesetzter Christian Gschwilm, Inklusionsbeauftragter des Bischöflichen Ordinariats, auf. Dass dies möglich ist und Stefanie Holdenried eine Arbeitsstelle bekommen hat, ist leider immer noch keine Selbstverständlichkeit.
Einfach war der schulische und berufliche Weg der jungen Frau nie. Kindergarten und Grundschule konnte sie noch in integrativer Form mit zusätzlichen Förderangeboten – zum Beispiel dem Erlernen der Blindenschrift – in ihrer Heimatregion in der Nähe von Ottobeuren besuchen. Ab der 6. Klasse war dies dann nicht mehr möglich, und Stefanie Holdenried musste in eine Internatsunterbringung wechseln, da nur so der Schulstoff und alle nötigen lebenspraktischen Fähigkeiten auf eine blindengerechte Weise vermittelt werden konnten. Zunächst besuchte die Eheimerin die Edith-Stein-Schule des Sehbehinderten- und Blindenzentrums in Unterschleißheim bei München. Nach dem erfolgreichen Hauptschulabschluss wechselte sie nach Stuttgart in die Tilly-Lahnstein-Schule, besuchte dort ein Berufsvorbereitungsjahr, dann die Wirtschaftsschule und anschließend das Berufskolleg, das sie 2017 mit dem Fachabitur abschloss: eine hervorragende schulische Leistung, die sich Stefanie Holdenried - immer weit weg von ihrer Familie zuhause – mit viel Durchhaltevermögen erkämpft hat.
Nach dem Abitur ging es darum, einen passenden Beruf zu finden. „Für blinde Menschen gibt es im Wesentlichen vier Bereiche, die in Frage kommen“, erklärt die heutige Kauffrau für Büromanagement. „Der IT-Bereich, der kaufmännische Bereich, Physiotherapie und ähnliche Gesundheitsberufe sowie Musik.“ Dies zeigt schon: der Rahmen ist begrenzt und viele Berufsfelder bleiben verschlossen. Stefanie Holdenried entschied sich für den kaufmännischen Bereich – zumal das der Tilly-Lahnstein-Schule in Stuttgart angegliederte Berufsbildungswerk der Nikolauspflege eine dreijährige Ausbildung zur Kauffrau – Büromanagement anbieten konnte. An dieser Stelle kam Martin Klinger, Rehabilitationsberater in der Agentur für Arbeit Kempten-Memmingen, ins Spiel. „Schulbesuch und die dazugehörigen Förderleistungen werden bei den Menschen mit Behinderungen, die dazu besondere Unterstützungen benötigen, vom Regierungsbezirk übernommen – die Ausbildung zählt dagegen zur beruflichen Rehabilitation und dafür sind wir als Agentur für Arbeit zuständig“, erläutert er. Da Stefanie Holdenrieds Heimatort Eheim im Unterallgäu liegt, war für sie die Agentur für Arbeit Kempten-Memmingen zuständig. Dementsprechend war es dann auch die Arbeitsagentur Kempten-Memmingen, die die Kosten der Ausbildung und die dazu nötige Internatsunterbringung in Stuttgart zahlte. Nach dem erfolgreichen Bestehen der Ausbildung kam eine sehr schwierige Phase für die nun ausgelernte Kauffrau für Büromanagement: „Ich war zwei Jahre lang arbeitslos. In dieser Zeit habe ich etwa 140 Bewerbungen geschrieben – und bekam nur Absagen. Ein Arbeitgeber war sehr ehrlich und sagte mir ganz direkt: `Ihre Qualifikation ist toll – wir würden Sie sofort einstellen, wenn Sie nicht blind wären.´ Das tut schon weh.“ Weiter unterstützt wurde sie in dieser Zeit vom Reha-Team der Agentur für Arbeit, das eine mehrfache, zeitweise Begleitung durch den Integrationsfachdienst Augsburg organisierte, der die bald 30jährige bei der Stellensuche unterstützte.
Schließlich entstand über ein Praktikum im Benediktinerkloster Ottobeuren – Stefanie Holdenried ist seit ihrer Kindheit kirchlich aktiv und singt im Chor – der Kontakt zum Bischöflichen Ordinariat Augsburg. Hier ist Christian Gschwilm stellvertretender Leiter einer der Personalabteilungen und gleichzeitig Inklusionsbeauftragter der Kirchenbehörde – und suchte in dieser Rolle eine Assistenzkraft, die ihn bei seiner Tätigkeit administrativ unterstützt. Im Sommer 2022 lernten sich Holdenried und Gschwilm in einem Gespräch kennen und für den Personaler war schnell klar: es geht nicht darum, ob er Stefanie Holdenried für diese Position einstellt, sondern wie er es bewerkstelligen kann: „Wir haben – wie alle anderen Arbeitgeber und Behörden auch – einen stetig wachsenden Fachkräftemangel. Das alleine verdeutlicht schon, dass wir keine gut ausgebildeten Fachkräfte unberücksichtigt lassen können. Für mich als Inklusionsbeauftragten ist es darüber hinaus noch eine Win-win-Situation: im Umgang mit Frau Holdenrieds Sehbehinderung mache ich wertvolle Erfahrungen, die ich als Inklusionsbeauftragter an andere Abteilungen im Haus bei der Einstellung von Menschen mit Behinderungen weitergeben kann. Der Beratungsbedarf dazu in unseren Abteilungen ist hoch: im Jahr 2023 hatten wir im Schnitt zwischen 130 und 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die eine Schwerbehinderung oder Gleichstellung angezeigt haben. Die gesetzlich vorgeschriebene Quote zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen übererfüllen wir, “ berichtet er. Eines war allen von Anfang an bewusst: einfach würde es nicht werden. „Die Einarbeitung von schwer sehbehinderten oder blinden Menschen stellt auch den Arbeitgeber vor besonders große Herausforderungen‘, betont der Inklusionsbeauftragte.
Hier war es auch die Agentur für Arbeit Kempten-Memmingen mit Martin Klinger, die die entscheidenden Unterstützungsmittel lieferte. Der technische Berater der Agentur begutachtete in einem ersten Schritt den Arbeitsplatz und stellte fest, welche Mittel benötigt werden. Beschafft wurde eine blindengerechte Tastatur inkl. einer speziellen Software, die es der jungen Frau ermöglicht, mit dem PC zu kommunizieren. Eingehende Emails wie auch selbstgeschriebene Dokumente werden von dem System laut vorgelesen. Um Kolleg:innen im Büro nicht zu stören, trägt Stefanie Holdenried dazu einen Kopfhörer. Kostenpunkt allein der Software: über 20.000 EUR. „Wenn jemand durch seine Behinderung so schwerwiegende Einschränkungen hat wie Frau Holdenried, kann von Ausbildungsbeginn bis hin zu einer erfolgreichen Arbeitsaufnahme eine Förderung in die Hundertausende gehen,“ erläutert Martin Klinger. „Da fallen natürlich nicht nur die Kosten der Arbeitsplatzausstattung, sondern auch die Ausbildungs- und Internatskosten während der Ausbildung, Lohnzuschüsse für den einstellenden Betrieb während der ersten Zeit der Arbeitsaufnahme, Kosten für die Qualifizierung zu den speziellen PC-Programmen oder z.B. das Mobilitätstraining hinein.“ Um in der fremden Stadt Augsburg alleine zurechtzukommen, hat ein Mobilitätstrainer mit Stefanie Holdenried den Weg zur Arbeit, aber auch zum Einkaufen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln geübt. Auch bauliche Veränderungen im Betrieb können dazu gehören – dies war in diesem Fall nicht nötig, da das Gebäude des Bischöflichen Ordinariats bereits in vielen Bereichen barrierefrei ist. Den noch nötigen Einbau einer Tür in einem Geländer hat das Bistum selbst übernommen. „Trotz der hohen Kosten: dieser Aufwand ist mehr als gerechtfertigt. Wollen wir Inklusion wirklich leben und Menschen wie Frau Holdenried gleichberechtigt an Leben und Arbeit teilhaben lassen, braucht es die Mittel für die Umsetzung. Und ihr Beispiel zeigt ja bestens: mit der nötigen Unterstützung ist sie eine wertvolle Arbeitskraft für das Bistum,“ fügt der Reha-Berater hinzu.
Mit Hilfe des Bistums hat die junge Frau seit kurzer Zeit eine eigene, vom Blindenbund vermietete Wohnung gefunden, in der sie nun alleine wohnt: zum ersten Mal in ihrem Leben ist die 30jährige jetzt vollkommen selbständig. Alles endlich in bester Ordnung? Bei der Frage, wie es ihr heute geht, ist Stefanie Holdenried sichtlich berührt. Das Alleinsein in der ihr immer noch fremden Stadt fällt ihr nicht leicht, am städtischen Leben teilzunehmen und neue Freundschaften zu schließen ist für sie als blinde Frau viel schwieriger, als für sehende Menschen. „Und man darf nicht vergessen: seit meiner Kindheit bin ich von zuhause weggewesen – da hat mir meine Familie schon immer sehr gefehlt“, erklärt sie. Dennoch ist Aufgeben keine Alternative für sie: „Ich mag die Tätigkeiten im Bistum sehr gerne und ich will auch Augsburg nicht verlassen, weil es mir hier doch gut gefällt.“ Und Christian Gschwilm fügt hinzu: „Die Situation zeigt, wie vielschichtig das Thema Inklusion ist und in wie vielen Bereichen es Menschen mit Behinderungen schwerer haben. Wir haben zum Glück von Haus aus intern viele Anlaufstellen, die Stefanie in ihrem neuen Lebensumfeld unterstützen können – diese werden wir alle nutzen. Und ich bin sehr optimistisch, dass sie alle Hürden meistern wird – wie schon bisher in ihrem Leben.“
Dass berufliche Inklusion nicht immer einfach umzusetzen ist, zeigen die Zahlen: unter den nicht ganz 10.500 Menschen, die im Oktober im Gebiet der Agentur für Arbeit Kempten-Memmingen arbeitslos gemeldet waren, befanden sich ca. 950 Menschen mit einer Schwerbehinderung – das sind 9,1 Prozent der aktuell in der Region arbeitslos gemeldeten Menschen. Personen mit einem geringeren Grad der Behinderung (unter 50) lassen sich hier statistisch gar nicht greifen, da sie ihren Grad der Behinderung nicht angeben müssen und dies auch oft nicht tun. Nichtsdestotrotz kann vermutet werden, dass auch diese Personengruppe unter einem höheren Risiko von Arbeitslosigkeit leidet, da sich auch Behinderungen mit einem geringeren Grad schwerwiegend auf die Arbeitsmarktintegration auswirken können. Und last but not least dürfen die Menschen nicht vergessen werden, die keinerlei anerkannte Behinderung aufweisen, aber trotzdem aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen in ihrer Teilhabe am Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Für alle diese Personengruppen bietet die Agentur für Arbeit als Trägerin der beruflichen Rehabilitation Unterstützung bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt. Mit einem Jahresetat von über 19 Mio. EUR und zusätzlich einer Summe speziell für die berufliche Eingliederung schwerbehinderter Menschen von über 400.000 EUR kommt die Agentur für Arbeit Kempten-Memmingen hier ihrer Verpflichtung nach. Maria Amtmann, Leiterin der Agentur für Arbeit Kempten-Memmingen meint dazu: „Menschen mit Behinderung verdienen unsere volle Unterstützung. Wie human eine Gesellschaft ist, zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit gehandicapten Menschen. Dazu kommt: Frau Holdenried ist das beste Beispiel, dass mit der nötigen Unterstützung Win-win-Situationen entstehen können. Menschen mit Schwerbehinderung haben viel zu geben und können viel leisten – dies beweisen sie allein schon in ihrem Umgang mit den Schwierigkeiten im täglichen Leben. Was sie benötigen: die Chance, dies zeigen zu können. Dazu stehen wir bereit: wir unterstützen die Menschen mit Behinderungen und die Betriebe, die diese Menschen einstellen möchten. Nehmen Sie gerne Kontakt auf und lassen Sie sich beraten: Tel. 0800 4 5555 20 (für Betriebe) oder Kempten-Memmingen.161-Reha@arbeitsagentur.de .