Kreis Recklinghausen. Zu Jahresbeginn zieht Agenturchef Frank Benölken eine Zwischenbilanz über die Auswirkungen der wirtschaftlichen sowie geopolitischen Entwicklungen des vergangenen Jahres auf den vestischen Arbeitsmarkt. Außerdem wirft er einen Blick auf anstehende Herausforderungen und wagt einen Ausblick, wie sich die Arbeitslosigkeit im Vest im kommenden Jahr entwickeln wird.
„Wir haben uns daran gewöhnt, mit dem Ausnahmezustand zu leben“, leitet Agenturleiter Frank Benölken den Rückblick auf die Entwicklung des vestischen Arbeitsmarktes im vergangenen Jahr 2023 ein und erklärt: „Im Grunde befinden wir uns seit Ausbruch der Corona-Pandemie im Jahr 2020 in einem dauerhaften Krisenmodus. Die Pandemie wurde abgelöst durch den russischen Angriffskrieg, dieser wiederum durch den Krieg in Israel. Parallel verschlechtern sich Konjunkturerwartungen, steigen Preise und wachsen Bedenken bei heimischen Unternehmen, die sich in sinkendem Einstellungsverhalten niederschlagen. Das sind die Vorzeichen, unter denen wir im vergangenen Jahr gearbeitet haben und es weiterhin tun. Und obwohl diese Rahmenbedingungen weder normal noch optimal sind, haben wir uns doch mittlerweile daran gewöhnt und ein höchstmögliches Maß an Stabilität erreicht, mit dem man zufrieden sein kann – eine Bilanz, die nicht in jeder Region so positiv ausfällt.“
Nicht verhehlen will Benölken zwei Baustellen, die sich bis Jahresende nicht haben schließen lassen und die den Grundstein für die Arbeit des kommenden Jahres legen: „Unser Ausbildungsmarkt leidet seit Jahren unter Passungsproblemen, wo Angebot und Nachfrage nicht vernünftig zueinander finden. In der Konsequenz muss es uns noch besser gelingen, alle Jugendlichen zu erreichen und damit zu verhindern, dass sich einzelne aufgrund mangelnder Anschlussperspektive aus dem Prozess der Berufsorientierung abmelden und für uns nicht mehr greifbar sind. Ändert sich diese Trendabkehr von der betrieblichen Ausbildung nicht, gefährdet dies nicht nur den Fortbestand der regionalen Unternehmen, sondern auch eine qualifizierte berufliche Grundlage für all jene, die sich im akademischen Umfeld nicht dauerhaft zurechtfinden.“
Und nicht nur auf dem Ausbildungsmarkt geht es um Qualifizierung: „Wir haben 2023 zu oft gehört, dass passende Mitarbeiter nicht zu finden seien, weil Qualifikationen oder Sprachkenntnisse fehlten. Unser vielfältiges Angebot, Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Qualifizierung zu unterstützen, kann noch viel deutlicher angenommen werden, denn die Töpfe für Weiterbildungen sind gut gefüllt. Dies würde auch dazu beitragen, Stellen besetzen zu können, für die ein grundsätzliches Potenzial an Menschen zur Verfügung steht, dem lediglich ein Teil an Qualifikationen fehlt. Ändert sich dies nicht, wird der Fachkräftemangel sehr bald unseren Wohlstand nachhaltig bedrohen.“
Auffälliger Rückgang bei Langzeitarbeitslosen
Im Jahresdurchschnitt waren 26.518 Männer und Frauen arbeitslos und damit 768 (+3,0 Prozent) mehr als 2022, jedoch 1.272 weniger als 2021. Die durchschnittliche Quote erreichte 8,1 Prozent, verglichen mit 7,9 Prozent im letzten und 8,5 Prozent im vorletzten Jahr. Auffällig ist der Rückgang an Langzeitarbeitslosen. Im Jahresdurchschnitt waren 13.016 Menschen dieser Personengruppe arbeitslos und damit 420 weniger als im Durchschnitt 2022. Alle anderen Personengruppen verzeichneten einen Anstieg der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit, der höchste fand in der Gruppe der Ausländer statt.
Personenkreis | Bestand im Jahresdurchschnitt | Veränderungen zum Vorjahr | |
Jüngere unter 25 Jahre | 2.070 | +126 | +6,5% |
darunter Jugendliche unter 20 J. | 448 | +44 | +10,8% |
50 Jahre und älter | 9.496 | +426 | +4,7% |
Langzeitarbeitslose | 13.016 | -420 | -3,1% |
Schwerbehinderte | 2.088 | +83 | +4,2% |
Ausländer | 9.626 | +931 | +10,7% |
Die Agentur für Arbeit betreute 2023 im Jahresdurchschnitt 6.530 Arbeitslose, 460 (+7,6 Prozent) mehr als 2022. Im Jobcenter Kreis Recklinghausen ist die Zahl der Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt um 307 (+1,6 Prozent) auf 19.988 gestiegen.
Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erreicht höchstes Niveau, nur Fachkräfte sind gefragt
Trotz moderat steigender Arbeitslosigkeit konnte sich der Trend steigender sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung weiter fortsetzen. Zum Jahresende betrug sie 180.617 und überstieg damit den bisherigen Höchststand des letzten Jahres um 1.390.
Im Vest sind rund 59 Prozent der Arbeitenden als Fachkräfte tätig, wohingegen weniger als 15 Prozent keinen Schulabschluss nachweisen können. „Die Nachfrage nach Fachkräften steigt nach wie vor, während die nach ungelernten Arbeitskräften sinkt. Damit bleiben Ausbildung und Qualifizierung entscheidende Schlüssel für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt. „Und um dieses Potenzial im Vest zu halten, bedarf es langfristiger finanzieller und soziokultureller Anreize“, so Frank Benölken.
Mit gut 11 Prozent (rund 20.500) ist das Gesundheitswesen die Branche mit den meisten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Auf Rang zwei folgt der Einzelhandel (9 Prozent), Rang drei belegt die öffentliche Verwaltung (6,7 Prozent) und Rang vier das Sozialwesen (6,5 Prozent).
Ausblick 2024:
Fachkräftesicherung über Ausbildung, Qualifizierung und gesteuerte Zuwanderung erreichen
Frank Benölken geht davon aus, dass sich Konjunktur und Inflation 2024 mit rückläufigen Stellenmeldungen für Geringqualifizierte auswirken werden, während sich der Fachkräfteengpass in den bekannten Mangelberufen weiter verstärken wird: „Der Arbeitskräftemangel wird von Jahr zu Jahr mehr zum alles überschattenden Problem auf dem Arbeitsmarkt. Und er hat gesamtgesellschaftliche Folgen. Wer im Winter einen Heizungsbauer braucht, dringend einen Termin beim Facharzt benötigt oder sein Kind wegen Kita-Schließungen notbetreuen lassen muss, weiß, wovon ich spreche. Und das Ende der Fahnenstange ist hierbei noch lange nicht erreicht. Schlimmstenfalls steht unser Wohlstand, den wir uns über Jahrzehnte erarbeitet haben, auf dem Spiel. Und damit muss klar sein: Die Lösung dieses Problems kann nur in der Gemeinschaft erfolgen und erfordert von allen beteiligten Seiten Initiative und unbequeme Lösungen.“
Für den Agenturchef zeichnen sich im kommenden Jahr drei Säulen der Problemlösung ab, die von allen Arbeitsmarktpartnern gemeinsam angegangen werden müssen. Zwei von ihnen, nämlich Ausbildung und Qualifizierung, stehen schon seit einigen Jahren ganz oben auf der Agenda. So habe laut Benölken jegliche Form der betrieblichen, schulischen sowie akademischen Ausbildung ihre Daseinsberechtigung, um den vielfältigen Interessen junger Menschen Rechnung zu tragen. „Wichtig ist, dass wir anfangen, diese als gleichwertig nebeneinander zu betrachten und aufhören, in der schulischen oder betrieblichen einen Mangel gegenüber der akademischen zu empfinden. Nur wenn das Image der betrieblichen und schulischen Ausbildung besser wird, werden wir auch wieder mehr junge Menschen dafür erreichen. Es ist durchaus bedauerlich, dass viele sich (zunächst) für eine akademische Laufbahn entscheiden, obwohl ihre Interessen wesentlich stärker im Praktischen als im Theoretischen liegen. Oft gehen damit nämlich Studienabbrüche einher, die vermieden werden könnten – zugunsten der eigenen Biografie sowie der Wirtschaft.“ So stockt die Agentur für Arbeit Recklinghausen im kommenden Jahr ihr Angebot an außerbetrieblichen Ausbildungsstellen weiter auf, um noch mehr Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anbieten zu können.
Neben der Ausbildung ist es Frank Benölken ebenso wichtig, bereits auf dem Arbeitsmarkt verfügbare Personen zu qualifizieren: „Nur während der Ausbildung zu lernen und danach nie wieder, funktioniert heute nicht mehr, dafür wandeln sich Berufsbilder viel zu schnell. Wir müssen also stärker den Willen zur ständigen beruflichen Weiterentwicklung fördern und unterstützen. Das gilt für alle Beschäftigten, Arbeitslosen und potenziellen Wiedereinsteiger nach einer beruflichen Pause. Nur auf diese Wiese werden Stellen mit geeigneten Kräften besetzt, die wiederum eine größere Sicherheit haben, ihre Jobs dauerhaft zu behalten. Auch Arbeitgeber müssen hierbei mitziehen und ihr Personal unterstützen. Am Ende profitiert schließlich auch der Betrieb, wenn er über Mitarbeiter verfügt, die auf dem aktuellen Qualifikationsstand sind. Hier geht es also nicht nur darum, im Boot zu sitzen und zu rudern, sondern selbst die Segel zu setzen für die Zukunft.“ Dazu gehöre auch, Erwerbsquoten von Personengruppen zu steigern, die bisher ihr volles Potenzial noch nicht ausgeschöpft haben, zum Beispiel von Frauen oder Geflüchteten: „Wir dürfen nicht die Flinte ins Korn werfen und darauf warten, geeignete Mitarbeiter präsentiert zu bekommen, sondern selbst daran mitwirken, ihre Eignung zu verbessern.“
Hinzu kommt eine gesteuerte Arbeitsmarktzuwanderung als dritte Säule, ohne die es künftig nicht mehr möglich sein wird, das benötigte Arbeitskräftevolumen zu stellen. Benölken: „Wir müssen uns von der Hoffnung lösen, dieses Problem allein mit inländischem Potenzial in den Griff zu bekommen, denn das ist nicht zu schaffen. Umso wichtiger ist es, vernünftige Abkommen mit Ländern und Berufsgruppen zu schließen, die für unsere Gesellschaft enorm wichtig sind, zum Beispiel in der Pflege und Erziehung, im Handwerk oder der IT.“ Dass es dabei auch zu Herausforderungen kommen wird, ist Benölken klar, dennoch bleibt er überzeugt: „Wir haben über viele Jahre nach bequemen Wegen gesucht, sie aber nicht gefunden. Und natürlich bedeutet das im Einzelfall auch, Sprachkenntnisse erst berufsbegleitend zu erwerben und neue Mitarbeiter gegebenenfalls bei der Suche nach einer Wohnung zu unterstützen. Wer aber zum Arbeiten hierherkommt und gut aufgenommen wird, dessen Loyalität kann ein Arbeitgeber sich für viele Jahre sehr sicher sein, das zeigt unsere Erfahrung mit Betrieben, die diesen Schritt schon gemacht haben.“
Frank Benölken rechnet damit, dass sich die Arbeitslosigkeit im Verlauf des Jahres 2024 leicht reduzieren und die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wachsen wird: „Alles deutet darauf hin, dass die Nachfrage nach Fachkräften hoch bleibt, auch getriggert durch die demografische Entwicklung. Für ungelernte Arbeitskräfte wird es bei schwächerer Konjunktur jedoch ungleich schwieriger, einen neuen Job zu finden – für sie wird sich die Arbeitslosigkeit voraussichtlich erhöhen.“