Die vergangenen 12 Monate waren keine einfache Zeit für den Arbeitsmarkt in der Region Vorpommern-Rügen. Dabei verlief der Start in das Jahr sogar außerordentlich optimistisch, denn nach der langen Zeit der Corona-Krise zeichnete sich eine deutliche Entspannung der Arbeitsmarktlage ab. So lagen die Arbeitslosenzahlen bereits im Januar und Februar wieder deutlich unter den hohen Werten des Vorjahres. Im März deutet sich sogar eine leichte Frühjahrsbelebung an - gute Aussichten für den weiteren Jahresverlauf. Bei optimistischer Prognose schien es sogar möglich, die Arbeitslosenzahlen der Vor-Corona-Zeit zu erreichen. Doch spätestens ab Mitte des Jahres wurde dann deutlich: Die Entwicklung am Arbeitsmarkt wird nicht so optimistisch verlaufen, wie angenommen.
„Im Juni zeigten sich erstmals die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine und die daraus resultierenden Flüchtlingsbewegungen auch an unserem regionalen Arbeitsmarkt“, so Dr. Jürgen Radloff, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Stralsund. „Normalerweise würden wir in den Sommermonaten – spätestens zum Beginn der Haupturlaubssaison – mit einem ganz deutlichen Rückgang der Beschäftigungslosigkeit rechnen können. Doch dieses Jahr war kein normales Jahr – und das gilt auch für den Arbeitsmarkt.“
Die Auswirkungen der Flüchtlingsbewegungen werden die Region auch noch weiter beschäftigen. Denn Geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern wird mit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zwar der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht – ein Arbeitskräftepotential, dass von den Unternehmen z.B. der Dienstleistungsbranche auch dringend gesucht wird. Doch so nahtlos funktioniert der Einstieg in den Arbeitsmarkt in der Praxis leider vielfach nicht. Sprachprobleme, die Anerkennung von Qualifikationsnachweisen oder fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind die Hauptprobleme bei der Vermittlung auf freie Stellen. Hier unterstützt das Jobcenter, denn seit dem 1. Juni 2022 werden geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer in den Einrichtungen der Grundsicherung betreut.
„Diese Situation ist zu meistern“, schätzt Dr. Radloff die aktuelle Lage ein. Der Agenturchef, der nun insgesamt 23 Jahre an der Spitze der Arbeitsagentur Stralsund stand und zum Ende des Jahres in den Ruhestand wechselt, hat den Arbeitsmarkt bereits in anderen schwierigen Situationen erlebt. „In den letzten zwei Jahrzehnten hat der Arbeitsmarkt in unserem Landkreis eine sehr deutliche Veränderung erfahren: von der Massenarbeitslosigkeit zum Arbeits- und Fachkräftemangel und das, in verhältnismäßig kurzer Zeit. Ich kann mich noch gut an den höchsten Stand der Beschäftigungslosigkeit erinnern. Den mussten wir im Februar 2005 – kurz nach der Einführung des Arbeitslosengeldes II – erleben. Damals waren in unserem Landkreis über 34.800 Männer und Frauen ohne Job. Die Arbeitslosenquote erreichte ein schwindelerregend hohes Niveau von 27,5 Prozent. Von diesen Werten sind wir glücklicherweise heute – trotz aller Krisen – meilenweit entfernt. Zuletzt waren im November noch 9.765 Personen arbeitslos gemeldet. Das entsprach einer Arbeitslosenquote von 8,7 Prozent.“
Für den scheidenden Agenturchef hat ein anderes Problem einen viel größeren Stellenwert in der Zukunft. „Die demographische Entwicklung war und ist ein bestimmendes Element für die Entwicklung auch bei uns am regionalen Arbeitsmarkt. Viele erfahrene Arbeitskräfte gehen aktuell in den Ruhestand. Junge Leute rücken nicht in ausreichendem Maße nach. Die Bevölkerung altert und damit auch der Arbeitsmarkt. Das ist im Übrigen nicht neu. Wir weisen bereits seit vielen Jahren auf diese Entwicklung hin. Nun aber werden die Arbeits- und Fachkräfteengpässe viel deutlicher sichtbar. Fast alle Wirtschaftsbereiche suchen inzwischen gut qualifizierte Arbeitskräfte.“
Die Lösung dieser Probleme wird nach Einschätzung des Agenturchefs nicht einfach. Doch es gibt verschiedenen Ansätze. Die Ausbildung von Azubis und die Qualifizierung der Beschäftigten für die Unternehmen wird auch weiterhin von großer Bedeutung bleiben. Doch auch die gezielte Zuwanderung von Arbeitskräften – etwa aus anderen Regionen der Bundesrepublik aber auch ganz gezielt aus dem Ausland - wird weiter ins Blickfeld rücken. „Die Region wird sich hierbei gut aufstellen müssen“, so Dr. Radloff. „Fachkräftemangel ist ein Problem, dass sich in der gesamten Bundesrepublik zeigt. Daher gibt es einen zunehmenden Wettbewerb, dem sich auch die Unternehmen in Vorpommern-Rügen stellen müssen. Nur wer die besten Arbeits- und Ausbildungsbedingungen bietet, wird für die (zukünftigen) Arbeitskräfte attraktiv sein.“