04.01.2023 - Akiko Lachenmann -5 MinutenArbeitswelt gestalten
Jedes Jahr im April ist im gediegenen „Hirsch Hotel“ in Ostfildern eine Dynamik zu verspüren, die das Traditionshaus nicht alle Tage erlebt: Vier Jungen im Alter von 12 bis 15 Jahren, korrekt gekleidet in weißen Hemden und schwarzen Hosen, flitzen zwischen Gästezimmern, Küche und Speiseraum hin und her. Woher die personelle Verstärkung rührt, darüber informieren Schilder in der Lobby und im Speiseraum: „Wir nehmen heute am Boys’Day teil“ ist dort zu lesen. „Auf diese Weise sind unsere Gäste über das verjüngte Personal im Bilde“, sagt die Ausbildungsleiterin Franziska Kammleiter.
Am jährlichen Boys’Day, einem vom Bund geförderten Aktionstag, haben Branchen, in denen überwiegend Frauen arbeiten, die Gelegenheit, Jungen ab der fünften Klasse zu einem eintägigen Praktikum einzuladen. Gleiches gilt umgekehrt für den Girls’Day, der am gleichen Tag stattfindet. Der Aktionstag dient nicht nur dazu, Schülerinnen und Schülern Berufe näherzubringen, in denen ihr Geschlecht unterrepräsentiert ist. Er ist auch für die teilnehmenden Betriebe eine unkomplizierte Gelegenheit, sich bei den Azubis von morgen vorzustellen. „Unsere Branche tut sich schwer, motivierte Bewerberinnen und Bewerber zu finden“, berichtet Franziska Kammleiter – ihr Hotel bietet immerhin sechs Ausbildungsplätze zum Hotelfachmann oder zur Hotelfachfrau an. „Deshalb nutze ich jede Gelegenheit, junge Menschen zu uns einzuladen.“
Dass sich das Engagement lohnen kann, zeigt eine Evaluation der Initiatoren des Aktionstags: Jedes vierte Unternehmen mit Mehrfachbeteiligung am Girls’Day konnte demnach später ehemalige Teilnehmerinnen als Praktikantinnen oder Auszubildende einstellen. Bei den am Boys’Day beteiligten Unternehmen lag der Anteil bei 17 Prozent.
Am diesjährigen Boys’Day machen sich vor allem Schüler aus den umliegenden Schulen mit dem Innenleben des Dreisternehotels vertraut. „Jeder kennt unser Hotel aufgrund der zentralen Lage“, sagt Kammleiter. „Aber innen drin waren bisher die wenigsten.“ Der Aktionstag helfe, Hemmschwellen abzubauen.
Alle Teilnehmer sind morgens pünktlich zur Stelle. Emanuele, ein 13-jähriger Realschüler, hat sich sogar eine Fliege umgebunden. Die Jungs dürfen sich zunächst am Frühstücksbuffet bedienen. „Das kommt gut an und gibt Kraft für den Tag“, sagt Kammleiter. „Und sie kriegen auch gleich einen Eindruck von unserem Service.“ Kammleiter findet es gut, dass die Teilnahme freiwillig ist. „Wer sich anmeldet, der bringt auch Interesse mit.“
Während einer kurzen Vorstellungsrunde erzählt Kammleiter, was ihr persönlich an dem Job gefällt, etwa die flexiblen Arbeitszeiten oder die Chancen, im Ausland zu arbeiten. Anschließend schauen sie gemeinsam einen dreiminütigen Imagefilm vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband an. Darin wird beschrieben, welche Stationen während der Ausbildung zum Hotelfachmann durchlaufen werden. Damit leitet Kammleiter über zum praktischen Teil: „Diese Stationen lernen Sie heute im Schnelldurchlauf kennen.“ Ganz bewusst sieze sie die Schüler. „Sie sollen spüren, dass sie auf Augenhöhe mit mir sind. Und unsere Azubis sieze ich schließlich auch“, sagt sie.
Kammleiter hat einen Einsatzplan vorbereitet, nach dem sie die Jungen auf die verschiedenen Arbeitsbereiche verteilt: Einer poliert Besteck im Speiseraum, einer schnippelt in der Küche Gemüse, einer staubsaugt oben in den Zimmern, einer bedient auf der Terrasse. In jedem Bereich zeigt ihnen eine Ansprechpartnerin oder ein Ansprechpartner, was zu tun ist. „Im ersten Jahr hatte ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, wer wann wo beschäftigt wird. Das hatte zur Folge, dass fünf Jungen am Buffet standen und nicht recht wussten, was tun“, erinnert sich Kammleiter. Mit einem Einsatzplan seien alle gut verteilt und sinnvoll beschäftigt. „Außerdem können sich unsere Mitarbeitenden besser auf die jungen Helfer einstellen.“
Zum Mittagessen gibt es Spaghetti Bolognese. Die Jungen decken ihren Tisch selbst ein, beenden das Essen ohne rote Flecken auf dem Hemd und räumen danach alles wieder auf. Nach der Mittagspause geht es mit unvermindertem Tempo weiter. Heute sind neue Möbel für die Terrasse eingetroffen. Die Jungen packen sie aus, wischen sie ab, stellen sie auf. „Die machen sich richtig nützlich für uns“, lobt Kammleiter.
Am Ende des Tages sind Emanuele und seine Kollegen erschöpft, aber auch stolz auf ihr Tagwerk. „Das war anstrengend, hat aber viel Spaß gemacht“, sagt Emanuele. Vor allem die Atmosphäre in der Küche habe ihm gefallen. Auch Kammleiter ist zufrieden über den Ablauf des Aktionstages. „Die Teilnehmer haben viele Eindrücke mitgenommen“, sagt sie. „Und vielleicht erinnert sich einer von ihnen an uns, wenn er sich für eine Ausbildung entscheidet.“