19.04.2017 - Esther Werderinghaus -5 MinutenArbeitswelt gestalten
Immer mehr Deutsche leiden unter dem weiten Anfahrtsweg zur Arbeit. Oft lässt sich das Pendeln nicht vermeiden – doch Arbeitnehmer und Arbeitgeber können viel dafür tun, dass es nicht zur psychischen Belastung wird.
André Winkler fährt jeden Tag 110 Kilometer zur Arbeit. Morgens steigt er um 6:00 Uhr am Hamburger Hauptbahnhof ein und um 7:15 Uhr in Bremen wieder aus. Am Abend fährt er zurück. Verspäten sich die Züge, ist er erst gegen 20:30 Uhr zu Hause. Dann streichelt er seinen schlafenden Kindern nur noch kurz über den Kopf.
Winkler, der in Wahrheit anders heißt, lebt gern in Hamburg. Die Großeltern sind da, die Ehefrau arbeitet dort in Teilzeit, die Kinder haben Freunde und fühlen sich wohl in ihrem Haus, für welches das Ehepaar einen hohen Kredit aufnehmen musste. Damals, als Winkler noch für einen anderen Arbeitgeber tätig war, hatte er einen zehnminütigen Anfahrtsweg. Leider meldete das Unternehmen Konkurs an.
Seit fünf Jahren pendelt er regelmäßig zu seiner Firma. Es ist ein Traumjob, der ihm Kraft gibt, sagt er, doch die ist vollkommen aufgebraucht, wenn er spätabends die Haustür aufschließt. Manchmal träumt er nachts von den Bremsen einfahrender Regionalzüge.
Wenn Pendeln krank macht
Winkler gehört zu den vielen Pendlern in Deutschland, die täglich einen Arbeitsweg von über 50 Kilometern in Kauf nehmen. Ihre Anzahl ist im vergangenen Jahr auf einen Rekordwert gestiegen: 2016 pendelten bundesweit 60 Prozent aller Arbeitnehmer zum Job in eine andere Gemeinde, 2000 waren es 53 Prozent. Zwar gehört auch ein großer Anteil von ihnen zu denen, die nur 14 Kilometer zur Arbeit fahren, aber wer einmal versucht, im Morgenverkehr vom Münchner Umland in die Innenstadt zu kommen, fährt auch eine Weile.
Berufspendler leiden häufiger als Nichtpendler an psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen. Auch Magen-Darm-Erkrankungen, Ängste, grippale Infekte, eine ständige Müdigkeit, Stress und Konzentrationsmangel gehören dazu. All das wirkt sich negativ auf die Arbeitsmotivation und die Produktivität aus.
Auch Winklers Arbeitgeber merkt nach ein paar Monaten, dass sein einst so motivierter Angestellter nicht mehr so voller Elan ist. Es kommt zu Spannungen. „Ich hatte immer den Eindruck, er hält das Pendeln für eine Lappalie“, sagt Winkler, „er verlangte immer 100 Prozent.“ Die gibt er, so gut er kann. Doch am Wochenende ist seine Energie so verbraucht, dass er sich nicht mal mehr mit Freunden treffen mag. Er ist niemand, der viel jammert. Aber nach etwa einem Jahr Pendeln setzen bei ihm Kopfschmerzen ein, die sich zu Migräneattacken entwickeln. Meistens schläft er sich am Wochenende aus, um wieder fit für den Montag zu sein. „Das Schlimmste war“, sagt der Familienvater, „dass sich meine Kinder immer mehr von mir entfremdet haben.“
Neue Perspektiven für Pendler
Pendler leiden enorm darunter, wenn ihre Vorgesetzten kein Verständnis für ihre Situation haben. Wer die Angestellten in ihrer Belastung nicht wahrnimmt, riskiert, dass sie sich nicht mehr mit dem Unternehmen identifizieren. Zu einem guten betrieblichen Gesundheitsmanagement gehört es, Pendlern Möglichkeiten zu bieten, mit der Belastung besser umgehen zu können. Sonst haben auf lange Sicht beide Seiten wenig von dem Arbeitsverhältnis. Klar ist: Die verkürzte Schlafdauer halten meistens nur „Abendtypen“ durch, „Morgentypen“ geben das Pendeln im Schnitt nach zehn Jahren auf, weil es zu sehr mit ihrem Schlaf-Wach-Rhythmus kollidiert.