Wenn der Mitarbeiter zu tief ins Glas schaut

Hat ein Kollege ein Alkoholproblem, sollte der Chef nicht lange zögern. Suchtexperte Peter Raiser weiß, wie man helfen kann – und wo die Grenze ist.


27.11.2019 - Akiko Lachenmann -4 MinutenArbeitswelt gestalten

Hier ein Sektchen zum Geburtstag, da ein Feierabendbier: Alkohol ist im Büro allgegenwärtig. Entsprechend schwer zu erkennen ist, wann Alkohol zum Problem wird. Worauf müssen Vorgesetzte achten? Und wie können sie dem Betroffenen helfen?

Dr. Peter Raiser kennt den neusten Stand der Forschung. Er ist stellvertretender Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), Referent für Grundsatzfragen und hat seine Expertise auf dem Gebiet Sucht am Arbeitsplatz. Der vom Gesundheitsministerium geförderte Dachverband aller in der Suchtkrankenhilfe aktiven Verbände bündelt die Fachkompetenz zu Fragen und Problemen der Suchtprävention und der Suchthilfe.

Faktor A: Herr Raiser, warum sollten sich Arbeitgeber mit dem Thema Sucht befassen?

Peter Raiser: Die Arbeitswelt ist genauso von Suchtproblemen betroffen wie der Rest der Gesellschaft. Die meisten Probleme bereitet seit Jahren und auf hohem Niveau der Alkoholkonsum: Jeder 20. Mitarbeiter entwickelt während seiner beruflichen Laufbahn ein gesundheitliches Alkoholproblem wie eine Abhängigkeitserkrankung oder Alkoholmissbrauch. Jeder sechste Mitarbeiter pflegt einen sogenannten riskanten Konsum. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit ist erhöht, weitere Erkrankungen wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Probleme zu entwickeln. Aufgrund der Risiken sollten Männer pro Tag nicht mehr Alkohol trinken als in 0,6 Liter Bier enthalten ist, für Frauen gilt der halbe Wert. An mindestens zwei Tagen in der Woche sollte gänzlich auf Alkohol verzichtet werden.

Welche Folgen hat Alkoholkonsum für ein Unternehmen?

Auf den Arbeitgeber kommen nicht nur Kosten in Form von krankheitsbedingten Ausfällen zu. Alkohol- und Drogenkonsum wirkt sich auf vielen Ebenen negativ aus: auf das Arbeitsklima, die Produktivität, die Arbeitsabläufe. In vielen Bereichen kann der Konsum auch ganz unmittelbare Folgen für die Firma haben: wenn der Mitarbeiter sich selbst in Gefahr bringt, indem er Maschinen oder Fahrzeuge lenkt, oder wenn er Dritte in Gefahr bringt. Man denke nur an Chirurgen, Fluglotsen oder Anlageberater. Auch in Berufen ohne offensichtliche Unfallgefahr ist die Beeinflussung der Arbeitsleistung, Konzentration oder Risikobereitschaft durch Alkohol unerwünscht, z.B. bei Lehrern, Anlageberatern oder Richtern. Keine Berufe oder Branchen sind davon ausgenommen.

Was sind typische Anzeichen dafür, dass ein Mitarbeiter an einer Sucht erkrankt ist?

Es gibt die allseits bekannten Hinweise wie die Alkoholfahne, den unsicheren Gang, die verwaschene Aussprache. Aber auch andere Auffälligkeiten können Anzeichen sein, wenn beispielsweise der sonst ausgeglichene Mitarbeiter häufiger ausfällig wird, wenn er seine Arbeit nicht mehr so zuverlässig erledigt wie einst, wenn er sich in seinem sozialen Verhalten verändert, häufig montags fehlt und so weiter. Dahinter muss nicht immer eine Sucht stecken, aber in jedem Fall sind diese Anzeichen Anlass, tätig zu werden.

Was sind die ersten Schritte?

Der Arbeitgeber sollte den Mitarbeiter um ein Gespräch unter vier Augen bitten – und zwar nicht erst, wenn er Gewissheit hat, dass ein Suchtproblem vorliegt, sondern schon bei den ersten Anzeichen. Denn je länger die Dauer einer Sucht, desto schwieriger wird es für den Betroffenen, diese zu überwinden. Fast in jedem Fall ist Hilfe von außen notwendig. Vor dem Erstgespräch sollte der Arbeitgeber genau im Bilde sein über die Auffälligkeiten, die Anlass für das Gespräch sind. So kann er am ehesten verhindern, dass sich der Betroffene in Ausreden flüchtet.

Wie sollte der Arbeitgeber beim Vier-Augen-Gespräch auftreten?

Portrait Peter Raiser
© privat - Peter Raiser

Es gibt zwei bewährte Gesprächsmodelle, zwischen denen der Arbeitgeber wählen kann. Entweder führt er ein „Fürsorgegespräch“, in dem die Kernbotschaft lautet: „Wir machen uns Sorgen! Wir wollen helfen!“ In diesem Fall sollte er auch Hilfsangebote parat haben, etwa Adressen von Beratungsstellen oder Broschüren, die das Problem adressieren. Oder er entscheidet sich für ein „Klärungsgespräch“, bei dem die Probleme im Vordergrund stehen, die der Mitarbeiter verursacht hat. Auch bei diesem Modell bietet der Arbeitgeber seine Unterstützung an, er bringt aber stärker seine Erwartung zum Ausdruck, dass der Mitarbeiter die Probleme auch anpackt und langfristig ausräumt.

Was tun, wenn nach dem Gespräch keine Besserung eintritt?

Wir empfehlen dann einen sogenannten Fünfstufenplan: Er umfasst bis zu fünf Gespräche und dient dazu, den Druck auf den Mitarbeiter schrittweise zu erhöhen. Vorgesehen ist unter anderem, dass man von Gespräch zu Gespräch mehr Personen hinzuzieht – etwa weitere Vorgesetzte oder Vertreter der Personalabteilung. Der Mitarbeiter sollte von Anfang an über den Stufenplan informiert sein. Wichtig ist, dass der Arbeitgeber während des gesamten Prozesses am obersten Ziel festhält, das Problem gemeinsam zu lösen. Erst mit der fünften Stufe, wenn alle Maßnahmen nicht gefruchtet haben, droht die Kündigung.

Kann man dem Betroffenen nicht auch entgegenkommen, indem man ihm eine Arbeit oder eine Arbeitszeit anbietet, die mit weniger Stress verbunden ist?

In einer Wiedereingliederung, zum Beispiel nach einer Therapie, gehören solche Vereinbarungen dazu. Im Vorfeld sind Maßnahmen dieser Art jedoch mit Vorsicht zu genießen, denn sie können dazu führen, dass der Mitarbeiter sein Problem nur halbherzig oder gar nicht anpackt. Nur wenn der Betroffene glaubwürdig vermittelt, dass er an sich arbeitet, etwa eine Therapie macht, können neue Arbeitszuschnitte als Ergänzung sinnvoll sein.

Kann ein Mitarbeiter nach so einer Suchtepisode überhaupt wieder zu voller Leistungsfähigkeit zurückkehren?

Auf jeden Fall. Menschen mit dieser Erfahrung können das Unternehmen auch bereichern. Wir erleben nicht selten, dass diese Mitarbeiter zu Ansprechpartnern bei Suchtproblemen ernannt werden oder im Unternehmen Selbsthilfegruppen gründen.

Suchtprobleme am Arbeitsplatz

Praktische Hilfe für Personalverantwortliche

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. hat eine Broschüre entwickelt, die Personalverantwortlichen und Führungskräften von kleinen und mittleren Unternehmen sehr gute Orientierung bietet, wenn ein Kollege oder Mitarbeiter möglicherweise ein Suchtproblem hat. Darin werden Fragen wie „Darf der Arbeitgeber eine Überprüfung des Alkoholspiegels anordnen?“, „Wie können betroffene Beschäftigte angesprochen werden?“ oder „Wann spricht man überhaupt von einem riskanten Alkoholkonsum?“ beantwortet. Außerdem enthält die Broschüre einen Interventionsfahrplan, wenn suchtbedingt arbeits- oder dienstrechtliche Pflichten verletzt werden. Die Broschüre informiert in weiteren Kapiteln über Medikamentensucht und Drogenmissbrauch und gibt Tipps, wie Suchtprävention im Betrieb erfolgen kann.

• Zur DHS-Broschüre Suchtprobleme am Arbeitsplatz (PDF)

• Infoportal sucht-am-arbeitsplatz.de

• Beratungsstellen und Behandlungseinrichtungen deutschlandweit auf suchthilfeverzeichnis.de


Titelfoto: © AxelBueckert/iStock