05.10.2022 - Maria Zeitler -6 MinutenMitarbeiter finden
zuletzt aktualisiert am 31.08.2023
Wer seine Lehrstellen nicht besetzen kann, sollte die Ausbildung attraktiver machen: zum Beispiel mit einem Auslandsaufenthalt für die Azubis. Damit lockt man die Fachkräfte von morgen und kann sie besser im Unternehmen halten.
Viele Ausbildungsbetriebe machen sich Sorgen: Ganze 228.000 angebotene Lehrstellen waren Ende Juli 2023 noch unbesetzt – wie in den vergangenen Jahren werden Unternehmen wohl für rund 45 Prozent ihrer Ausbildungsplätze keine Kandidatinnen oder Kandidaten finden. Der Fachkräftemangel beginnt bei vielen ausbildenden Betrieben also schon beim Mangel an Azubis. Gründe sind unter anderem die fehlende Attraktivität und das schlechte Image der betrieblichen Ausbildung als zweite Wahl im Vergleich zum Studium. Mit einem Auslandsaufenthalt während der Ausbildung können Betriebe diese Hürde überwinden.
Berufliche Bildung in ganz neuem Licht
„Ein Auslandsaufenthalt kann die Berufsausbildung für Jugendliche um ein Vielfaches attraktiver gestalten“, sagt Berthold Hübers. Als stellvertretender Leiter der Nationalen Agentur beim Bundesinstitut für Berufsbildung setzt er die Förderprogramme Erasmus+ und AusbildungWeltweit um. „Für die Betriebe entsteht damit gleich ein doppelter Effekt: Mit einem Auslandspraktikum wird nicht nur die Ausbildung im eigenen Unternehmen attraktiver, sondern gleichzeitig das Image der beruflichen Bildung insgesamt aufgewertet – wovon alle Ausbildungsbetriebe profitieren“, sagt Hübers.
Die beiden Programme, die er betreut, sind die größten staatlichen Förderprogramme zum Thema Auslandsaufenthalt in der Ausbildung: Das größere ist Erasmus+, das von 2021 bis 2027 insgesamt 4,38 Milliarden Euro bereitstellt. Das Programm AusbildungWeltweit (AWW) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ergänzt Erasmus+ und fördert Auslandsaufenthalte außerhalb der EU. Um die 25.000 Auszubildende waren vor Corona jährlich über Erasmus+ im Ausland, bei AWW wurden seit 2017 rund 2000 Aufenthalte bewilligt. Das derzeitige Interesse lasse den Schluss zu, dass dieser Stand sehr bald wieder erreicht wird, so Hübers.
Fast zwei Drittel der Auslands-Azubis kommen aus kleinen und mittleren Unternehmen
Für den Aufenthalt im Ausland gibt es feste Fördersätze, die unter anderem je nach Zielland oder Aufenthaltsdauer variieren. Die Förderung ist keine Vollfinanzierung, aber zusammen mit dem Ausbildungsgehalt können die meisten Azubis die Kosten des Praktikums damit stemmen. 3210 Euro Förderung bekommen Auszubildende über AWW beispielsweise für einen dreiwöchigen Aufenthalt in Boston; wer 90 Tage in Singapur verbringt, hat 5197 Euro zur Verfügung. 250 Euro kommen bei beiden Programmen als Organisationspauschale dazu. Durch die Programme ist der Auslandsaufenthalt für die jungen Kolleginnen und Kollegen nicht nur für große Unternehmen zu stemmen: Mit 63 Prozent kommen viele der Azubis aus kleinen oder mittleren Unternehmen.
Industriekaufleute, ITler, Gastronominnen und Gastronomen auf der Walz
Wen sie ins Ausland schicken, können Unternehmen frei entscheiden, denn das Praktikum wird für jede Ausbildung gefördert. Den größten Teil der Auslandspraktikantinnen und -praktikanten stellen die Industriekaufleute: 18 Prozent aller Absolventinnen und Absolventen waren mit einem der beiden Programme im Ausland, auch viele Azubis aus den Bereichen IT, Mechatronik, Handwerk, Tourismus, Hotel und Gastronomie nehmen das Angebot an.
Thomas Gauza will den Aufenthalt möglichst vielen Azubis ermöglichen. Er ist kaufmännischer Ausbildungsreferent beim Pharma-Unternehmen Boehringer Ingelheim: „Wir schicken vor allem Kaufleute, wollen es aber grundsätzlich auf viele andere Berufe ausweiten. Einer, den er mit der Förderung nach Dubai gebracht hat, ist Felix Feigelmann.
Im Durchschnitt bleiben die Azubis vier Wochen im Ausland
Er hat eine Ausbildung zum Kaufmann für Büromanagement mit der Zusatzqualifikation Europakaufmann absolviert und war im November 2021 für rund einen Monat in einer Boehringer-Niederlassung in dem Emirat: „Für mich war das Auslandspraktikum mit Abstand das größte Highlight während meiner Ausbildung. Jeder Mensch hat einen anderen Blickwinkel, und in einer anderen Kultur sind die Sichtweisen noch einmal ganz anders. Das hat mich total weitergebracht“, sagt Felix, der mittlerweile nach seiner Ausbildung übernommen wurde. Wie er bleiben die Azubis im Durchschnitt rund vier Wochen am Ende des zweiten Lehrjahrs in einer fremden Stadt – gefördert werden Aufenthalte mit einer Länge von zwei Wochen bis zu einem Jahr. Eine Zeit, in der die Betriebe auf ihre Arbeitskraft verzichten müssen – und die sie überbrücken müssen. Abfedern lässt sich der Effekt, indem Auslandsaufenthalte nie in Hochzeiten stattfinden, in denen jede Hand gebraucht wird. Berthold Hübers sagt aber: „Ausbildung ist immer auch eine Investition, darum kommt man nicht herum. Mit einem Auslandsaufenthalt wird die Investition höher – aber auch der ‚Return of Investment‘.“
„Ein Entwicklungssprung, von dem wir als Ausbildungsbetrieb profitieren“
Ausbildungsreferent Gauza bestätigt die Vorteile für das Unternehmen, aber auch für die Azubis persönlich. „Es ist wirklich ein Reifeprozess, den die Auszubildenden da durchmachen.“ Auch Selbstorganisation sei ein Lernziel: Die Azubis müssen sich um Praktikumsplatz, Flug, Visum und Unterkunft kümmern. „Wenn sie dann dort sind und das erste Mal das Gefühl haben: ‚Das klappt, ich schaffe das!‘, ist das regelrecht ein Entwicklungssprung, von dem wir als Ausbildungsbetrieb im Nachhinein immens profitieren“, sagt Gauza.
Berthold Hübers vom Bundesinstitut für Berufsbildung betont, wie wichtig diese Selbstständigkeit ist: Aus Rückmeldungen der entsendenden Betriebe weiß er, dass diese zwar fachliche und sprachliche Fähigkeiten als Pluspunkte des Auslandspraktikums anführen – aber die persönliche Entwicklung der Azubis immer wieder als wichtigsten Aspekt nennen: „Sie schicken jugendliche Menschen weg und bekommen selbstbewusste junge Erwachsene zurück, die ihren Horizont erweitert haben und viel Eigeninitiative zeigen“, sagt Hübers.