Fachkräfte aus Lateinamerika: Vom Ausnahmezustand aufs
bayrische Land

Wie Betriebe in der Oberpfalz den Azubimangel bekämpfen: Das Projekt „El Salvador“ bildet ausländische Jugendliche zu Fachkräften von morgen aus.


11.10.2023 - Katja Feuerstein -7 MinutenMitarbeiter finden

In El Salvador herrscht Ausnahmezustand wegen hoher Bandenkriminalität. Das Land ächzt unter Korruption, Armut und Gewalt. Mit dem Projekt „El Salvador“ unterstützen die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) und Arbeitsagentur Weiden Jugendliche dabei, eine berufliche Zukunft in Deutschland zu finden. Faktor A hat mit Stephan Bösl und Regina Ram vom Arbeitgeberservice Weiden gesprochen.


El Salvador – das ist Tropenparadies und Karibik. Doch der Schein trügt: Das kleinste Land Zentralamerikas, in dem alles Schöne so nah beieinander liegt, galt bis 2022 zugleich als eines der gefährlichsten der Welt. Als Antwort auf die Gewaltspirale verhängte die Regierung im März 2022 den Ausnahmezustand. Seitdem sind die Grundrechte eingeschränkt. Während die Sicherheitspolitik des Präsidenten Bukele laut Umfragen in der Bevölkerung auf Zustimmung stößt, prangern Aktivist*innen Menschenrechtsverletzungen an.

Zudem besteht gut ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts aus den Rücküberweisungen von Landsleuten, die im Ausland leben und arbeiten. Das ist ein Viertel der Bevölkerung. Und ein Drittel der El Salvadorianer*innen lebt in Armut. Es gibt nur begrenzte Agrarflächen, kaum Rohstoffe und wenig Industrie. Ein Großteil der benötigten Güter muss importiert werden. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Erdrutsche und Hurrikane machen El Salvador zu einer der krisenanfälligsten Regionen der Erde. Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit münden in Flucht oder direkt in den Strudel aus Bandenkriminalität und Gewalt. Die Zukunftsperspektiven sind düster – speziell für die junge Generation.

Jugendbanden – die sogenannten Maras – kontrollieren und terrorisieren in El Salvador ganze Stadtviertel, vor allem die der Armen. Der Name „Maras“ leitet sich ab vom Raubzug der Wanderameisen, „Marabunta“, die alles abfressen, was sich ihnen in den Weg stellt. Die Maras verständigen sich in einem eigenen Slang aus Amerikanisch und Spanisch. Ihr Kennzeichen sind Tätowierungen, die Gesicht, Kopf und Körper bedecken. Tätowierte Tränen unter dem Auge stehen für Ermordete, für jeden Toten kommt eine hinzu. Sie sind in Schutzgelderpressung und Drogenhandel verwickelt. Die daraus resultierende Gewalt machte El Salvador zu einem der gefährlichsten Staaten der Welt. Insgesamt zählt das kleine Land mit seinen gerade mal 6,5 Mio. Einwohnern etwa 65.000 Bandenmitglieder. 2005 waren es noch 11.000. Der Staat begegnet den Banden seit vielen Jahren mit der harten Hand. Deshalb sind auch die Gefängnisse überfüllt. Die extreme Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit treibt viele El Salvadorianer*innen in die Flucht: so ist der Migrationsdruck in die USA besonders hoch.

Eine neue Perspektive in der Fremde

Während in El Salvador Ausnahmezustand herrscht, kämpft man in Deutschland mit einem ganz anderen Problem: dem Abgang der Babyboomer in den Ruhestand und einem sich verschärfenden Arbeits- und Fachkräftemangel. Vor allem Azubis sind Mangelware. Für viele regionale Unternehmen wird dies zunehmend existenzbedrohend. So auch in der Oberpfalz.

"Zuwanderung ist hier ein Schlüssel, der den Mangel teilweise lindern kann“.

Stephan Bösl (SB): Die Ausgangslage war katastrophal. 2022 hatten wir fast doppelt so viele Ausbildungsstellen wie Bewerbende im Agenturbezirk Weiden. Es fehlt einfach qualifiziertes Personal bzw. kommt weniger bis keins nach.

Stephan Bösl, Mitarbeiter des Arbeitgeberservice der Agentur für Arbeit Weiden
Foto: Stephan Bösl, Mitarbeiter des Arbeitgeberservice der Agentur für Arbeit Weiden, @Stephan Bösl

Unter dem Motto „Nachwuchskräfte aus dem Ausland gewinnen“ stampfte die Arbeitsagentur Weiden daher kurzerhand gemeinsam mit der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) ein Pilot-Projekt aus dem Boden: Das war die Geburtsstunde von "El Salvador". Damit erhalten Arbeitgeber aus der Nordoberpfalz die Chance, einen Teil des zukünftigen technischen Fachpersonals, insbesondere im Elektronikbereich, aus dem Ausland zu rekrutieren. Das gelingt über die sprachliche, theoretische und fachliche Ausbildung. So haben die Bewerbenden bereits ein abgeschlossenes Fachabitur und gute Sprachkenntnisse auf B1-Niveau. Damit erfüllen sie die formalen Voraussetzungen für eine Ausbildung in Deutschland. Ebenso bringen sie die Motivation mit, sich hier eine Zukunftsperspektive aufzubauen.

Faktor A (FA): Wie wurden die jungen Auszubildenden angeworben?

SB: Unser AGS-Kollege und Projektbegleiter Richard Murr wurde von der ZAV auf ein bestehendes Projekt zur Anwerbung von Fachkräften in der Pflege aus El Salvador aufmerksam gemacht. Die ZAV hatte in der Vergangenheit bereits an einer Schule für eine Pflegeausbildung in Deutschland rekrutiert. Nun wurden erneut gezielt Schüler*innen der Abschlussklassen im Elektronikbereich angesprochen. Sie wurden gefragt, ob sie Interesse daran hätten, eine entsprechende Ausbildung im Ausland zu machen. Die ZAV stellte die grundsätzlichen Voraussetzungen fest. Am Ende wurden 17 potenzielle Auszubildende ausgewählt.

FA: An dem Punkt kamen Sie ins Spiel?

SB: Genau. Als Arbeitgeberservice (AGS) haben wir uns dann regional nach passenden Betrieben umgeschaut. Wir hatten uns vorgestellt, mit drei bis vier Modellbetrieben zu starten. Dazu haben wir 20 ausgewählte Betriebe aus der Branche angesprochen. Doch aller Anfang war schwer…

FA: Wieso? Hatten die Unternehmen kein Interesse?

SB: Das war es gar nicht einmal. Es war vielmehr eine Kostenfrage! Die Firmen waren willig, aber von den 20 Betrieben haben wir über die Bank weg nur Absagen erhalten, weil sie schlichtweg die Kosten erst einmal nicht stemmen konnten oder wollten. Und/oder niemanden hatten, der sich um die Betreuung der Azubis kümmern kann.

FA: Wie ging es dann weiter?

SB: Alles beginnt bei einem guten Bier – oder bei einem gemeinsamen Unternehmerstammtisch. Der brachte schließlich die Wende. Der Personalleiter eines regionalen Betriebs war begeistert vom Projekt und schmiss sein Netzwerk an. Er konnte schließlich einige Unternehmen davon überzeugen, sich auf das Abenteuer „El Salvador“ einzulassen. So kam alles in Gang und wir konnten mit starken Partnern im Rücken die restlichen Betriebe akquirieren. Jetzt konnten wir endlich starten und in die Rolle des „Kümmerers“ schlüpfen, der die Arbeitgeber unterstützt.
 
FA: Es brauchte also erst ein wenig Mut zum Risiko?

SB: Eher jemanden, der vorangeht und einfach loslegt. Einem, von denen die anderen lernen können, der inspiriert. Das ist auch das Prinzip unserer runden Tische, die wir für die Arbeitgeber im Projekt organisiert haben: Hierbei profitieren alle vom Informations- und Erfahrungsaustausch. Gerade die „Kleinen“ von den „Großen“. So etwas geht eben nicht von heute auf morgen. Speziell für KMU ist das eine Herausforderung.

Richard Murr, Carmen Allabar, Stephan Bösl und Regina Ram
Foto: v. l.: Richard Murr (AA Weiden), Carmen Allabar (ZAV), Stephan Bösl und Regina Ram (AA Weiden), @Richard Murr

Es müssen so viele Fragen im Vorfeld abgeklärt werden – von der Vorbereitung der Einreise, übers Flüge buchen, Visa beantragen, Ankommen, Leben und Wohnen in Deutschland – bis man dann erst einmal zur eigentlichen Ausbildung, Berufsausbildungsbeihilfe oder ausbildungsbegleitenden Hilfen kommt. Das war ein monatelanger Prozess, bei dem wir als AGS und ZAV den Arbeitgebern mit Rat und Tat zur Seite standen.

FA: Wie kamen Unternehmen und Auszubildende zusammen?

SB: Alles begann via Skype. Azubis und Unternehmen konnten sich bei virtuellen Vorstellungsrunden beschnuppern und kennenlernen. Die Betriebe wiederum präsentierten sich und ihre Ausbildungsmöglichkeiten. Sogar die Botschafterin von El Salvador hat es sich nicht nehmen lassen, uns ihr Land samt Kultur näherzubringen. Es war ein gegenseitiges Abtasten. Die Kultur ist uns durch die christliche Prägung einerseits sehr nah, andererseits aufgrund indigener Einflüsse und der politisch gesellschaftlichen Lage sehr fern. Als AGS war es uns daher ein Anliegen, neben den beruflichen Optionen auch unsere Region vorzustellen. Da kommen junge Menschen vom anderen Ende der Welt in eine ganz andere Welt, die dazu noch ziemlich ländlich geprägt ist. Das muss man den Jungen auch transparent und schmackhaft machen, damit keine falschen Erwartungen erzeugt werden und sie auch hierbleiben wollen. Das war uns wichtig. Das beginnt ja schon beim Wetter: für El Salvadorianer*innen sind 22 Grad Celsius z. B. eher kalt. Da gibt es keinen Schnee. Da wird der erste bayerische Winter gewiss erst einmal hart. Oder Trockner, Waschmaschinen und Geschirrspüler. Für uns total normal, in El Salvador absolute Luxusgüter.

FA: Wo hat es „gematcht“?

SB: Es hatte schon etwas von Dating. Die Bewerbenden durften abstufend drei Favoriten benennen. Das Gleiche galt für die Unternehmen. Wenn es bei beiden „gematcht“ hatte, wurde das nächste Level in der künftigen Arbeitsbeziehung genommen: per Videochat wurden die Ausbildungsverträge unterzeichnet. Anschließend gab es regelmäßige Austauschformate zwischen den neuen Azubis und den Betrieben, um Verbindlichkeit und Verbundenheit herzustellen. Parallel dazu erarbeiteten sich die jungen Menschen das Sprachlevel B1 im Rahmen eines vorbereitenden Sprachkurses. Zudem fand noch in El Salvador eine kulturelle Vorbereitung auf ein Leben in Deutschland statt. Am 16. August war es dann endlich soweit: 15 junge Menschen aus El Salvador landeten auf deutschem Boden. Mitarbeitende der Ausbildungsbetriebe, eine ZAV-Mitarbeiterin und zwei Kolleg*innen des Arbeitgeber-Services (AGS) der Arbeitsagentur Weiden fuhren los, um sie am Münchener Flughafen persönlich willkommen zu heißen. Gemeinsam ging es mit dem Bus nach Weiden, wo sie nach einer kleinen Stärkung ihre Wohnungen beziehen konnten. Das war aufregend!

Ankunft der Auszubildenden im Projekt "El Salvador" am Flughafen
Foto: Ankunft der Auszubildenden am Flughafen, @Stephan Bösl

FA: Und wer wurde da angeworben? Wer sind die neuen Azubis?

SB: Wir konnten 15 Azubis zwischen 18 und 21 Jahren aus El Salvador gewinnen, darunter zwei Frauen. Bei zwei der ursprünglich 17 Jugendlichen hat es leider nicht geklappt. Eine hat den Sprachkurs nicht bestanden. Ein anderer konnte die angestrebte Ausbildung aus gesundheitlichen Gründen doch nicht antreten. Er nimmt dafür 2024 in einem anderen Ausbildungsberuf teil. Alle verfügen über ein 12-jähriges, technisches Fachabitur, haben also das gleiche Bildungsniveau. Die starke soziale Ungleichheit, die im Heimatland herrscht, ließ sich dagegen an der Anzahl der Gepäckstücke und am mitgeführten Bargeld ablesen. Die jungen Leute stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten: Während einige mit nicht mehr als ein wenig Handgepäck und/oder einem kleinen Koffer mit kaum Geld in der Tasche einreisten, waren andere schon besser ausgestattet. Was sie vereint, sind die geringen Entwicklungsmöglichkeiten in ihrer Heimat. Sie sehen Deutschland als persönliche Chance, sich weiterzuentwickeln und etwas aus sich zu machen.

FA: Wie sind die bisherigen Rückmeldungen aus den Unternehmen?

SB: Durchweg positiv. Die Neuen sind sehr neugierig, wissbegierig und offen. Sie freuen sich auf ihre Zeit und Ausbildung in Deutschland. Dadurch, dass sie schon in El Salvador Deutschunterricht bis B1 hatten, sprechen sie ziemlich gut Deutsch. Ihre sprachliche Entwicklung wird zudem durch einen begleitenden Sprachkurs im Rahmen einer assistierten Ausbildung mit ausbildungsbegleitenden Hilfen unterstützt. Einige haben schon so ein Level erreicht, dass sie bald fachlichen Stützunterricht erhalten können. Ebenso legen wir und die Unternehmen Wert darauf, dass die Azubis untereinander in Kontakt bleiben und vor allem sozial integriert sind.

Auszubildende aus El Salvador beim gemeinsamen Fahrradkurs
Foto: Auszubildende aus El Salvador beim gemeinsamen Fahrradkurs, @ Josef Argauer, OVW Weiden

So wurden Mitgliedschaften in Vereinen und Feuerwehr organisiert. Das Gleiche gilt für erste gemeinsame Aktivitäten, wie ein Fahrradtraining. Das soll das Wir-Gefühl stärken und natürlich auch ein wenig das Heimweh lindern. In El Salvador fährt z. B. kaum jemand Fahrrad, sodass das für die Azubis schon ein wenig „exotisch“ war. Den Spaß, den alle miteinander hatten, können Sie sich vorstellen!

FA: Welche Unternehmen nehmen am Projekt teil?

SB: Sechs Betriebe aus der Region machen mit. Sie bieten den El Salvadorianer*innen diverse Ausbildungsberufe an, u.a. als Mechatroniker*in, Elektroniker*in Automatisierungstechnik, Industrieelektroniker*in Betriebstechnik, Fachkraft Lagerlogistik, Fertigungsmechaniker*in und Technische/r Produktdesigner*in:

  • BHS Corrugated Maschinen- und Anlagenbau GmbH aus Weiherhammer
  • Constantia Pirk GmbH & Co. KG aus Pirk
  • HORSCH Maschinen GmbH aus Schwandorf
  • Janner Waagen GmbH aus Weiden
  • Segerer Logistik GmbH aus Wernberg-Köblitz
  • WITRON Logistik + Informatik GmbH aus Parkstein

FA: Wie unterstützt der AGS die teilnehmenden Unternehmen bzw. Arbeitgeber?

SB: Wir haben die Arbeitgeber über den gesamten Projektprozess begleitet und tun es noch. Von der Akquise bis zur Beratung zu Förderleistungen. Wir waren teils auch bei den Vorstellungsrunden unterstützend an Bord. Genauso haben wir die runden Tische für die Arbeitgeber ins Leben gerufen. Wir sind sozusagen das Bindeglied in die Region zwischen ZAV und den Betrieben. Wir haben Fragen beantwortet und versucht, Ängste und Vorbehalte auszuräumen.

FA: Wie geht es jetzt weiter?

Regina Ram: Am 12. Oktober veranstalten wir als Agentur für Arbeit in Weiden einen Fachtag zur Ausländerbeschäftigung: „Chancen nutzen mit ausländischen Fachkräften“. Dort erhalten Arbeitgeber umfassende Informationen zum neuen Fachkräftezuwanderungsgesetz. Ebenso berichten die Ausbildungsbetriebe über die ersten Erfahrungen der Azubis im Projekt. Ein paar von ihnen werden auch vor Ort dabei sein.

Regina Ram, Leiterin des Arbeitgeberservice der Agentur für Arbeit Weiden
Foto: Regina Ram, Leiterin des Arbeitgeberservice der Agentur für Arbeit Weiden, @Faktor A

"Seien Sie offen und mutig, jungen engagierten Menschen aus dem Ausland eine Chance zu geben!"

Alle interessierten Unternehmen der Region laden wir herzlich dazu ein. Auch, wer es nicht zur Veranstaltung schafft, kann sich bei uns melden und beraten lassen: Denn auch zum Ausbildungsbeginn 2024 suchen wir wieder Ausbildungsbetriebe für unser Projekt „El Salvador“.

FA: Herzlichen Dank, Herr Bösl und Frau Ram! Wir werden das auf alle Fälle weiterverfolgen.


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