31.03.2021 - Annette Vorpahl -8 MinutenRichtig führen
Mitarbeiterbefragungen sind Chefsache. Doch Vorsicht: Wenn Unternehmen ihren Mitarbeitenden zuhören, müssen sie bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Dirk Oßwald, Vorstandsvorsitzender der Lebenshilfe Gießen e.V., hat das getan.
Faktor A: Herr Oßwald, wie viele Mitarbeitende hat die Lebenshilfe Gießen e.V.?
Dirk Oßwald: Wir haben insgesamt 1.350 Mitarbeitende, darunter 40 Führungskräfte, und sind vor allem in den Bereichen Eingliederungshilfe sowie Kinder- und Jugendhilfe aktiv.
Nach der ersten Welle der Pandemie haben Sie eine Mitarbeiterbefragung zum Thema Corona gestartet. Wie kam es zu dieser Idee?
Als die erste Welle im Sommer 2020 hinter uns lag, hatten Führungskräfte unserer Werkstätten für Menschen mit Behinderung diese Idee. Die Werkstätten waren zuvor rund 60 Tage geschlossen, es gab Betretungsverbot für die Mitarbeitenden mit Handicap. Die pädagogischen Fachkräfte mussten teilweise die Maschinen bedienen, damit wir die Aufträge weiterbearbeiten konnten. Die Beschäftigten sollten mitteilen, wie sie die Coronakrise erlebt haben. Unsere Intention war es, Lehren aus der ersten Krise zu ziehen, um für eine mögliche nächste Krise gewappnet zu sein.
… und die ließ ja nicht lange auf sich warten.
Genau. Wir starteten mit der anonymen Erhebung in allen Bereichen, als die erste Welle hinter uns lag. Die Ergebnisse schwappten mitten in die zweite Welle, und wir konnten danach direkt – fast tagesaktuell – auf akute Bedarfe und Probleme reagieren.
Welche waren das?
Das betraf vor allem die Informationspolitik, dort haben wir große Defizite vermittelt bekommen. Viele Informationen erreichten die Basis nicht. Nicht jeder in der Betreuung hat einen E-Mail-Account, ein mobiles Endgerät oder einen persönlichen PC-Arbeitsplatz. Außerdem ging es um Notfallpläne, gesundheitliche Bedenken, Belastungssituationen, die Kommunikation im Team und allgemeine Themen zu Corona – aufgeschlüsselt nach unseren vier pädagogischen Arbeitsbereichen und fünf größeren Tochtergesellschaften. Differenzierte Ergebnisse waren wichtig, weil die Coronakrise die Abteilungen unterschiedlich hart getroffen hat. Wir bekamen 400 Rückmeldungen, 30 Prozent – eine gute Quote.
Was haben Sie verändert?
Als Erstes stellten wir unsere Kommunikation neu auf. Seither geben wir einen wöchentlichen Corona-Newsletter heraus – auch in leichter Sprache per Mail und Ausdruck. Wir haben eine Corona-Hotline geschaltet, damit die Kollegen sofort Ideen oder Beschwerden melden können. Wir bieten wöchentliche Telefonsprechstunden der Geschäftsführung an. Wir haben einen Corona-Beauftragten ernannt, der Personaleinsätze und Informationen koordiniert. Und wir haben unsere Krisenstäbe aus der ersten Welle reaktiviert, ergänzt um Vertreter der Basis und der Menschen mit Handicap – auch das waren Wünsche aus der Befragung.
Gab es Ergebnisse, mit denen Sie nicht gerechnet hatten?
Es hat mich gewundert, welch große Bedeutung die Beschäftigten dem Krisenstab beimessen. Der Basis bedeutet es sehr viel, dass oben ein Krisenstab agiert. Da sieht man das Bedürfnis nach Führung, Klarheit und Regelungen. Außerdem hatten wir nicht auf dem Schirm, dass sich der Informationsfluss von oben bis nach unten teilweise so zäh gestaltet.
Haben Sie diese Befragung selbst entwickelt?
Zuerst wollten wir eine Mail rausschicken mit einem selbst gestrickten Fragebogen und merkten dann, wie komplex das Ganze ist. Deshalb holten wir uns Unterstützung beim Anbieter Metriloop. Die Umfrage sollte einerseits kurzfristig möglich und kompakt sein – andererseits wissenschaftlich fundiert. Den Ausschlag für den gewählten Anbieter gaben auch die Konzeption der Fragen und das sehr individuelle Eingehen auf unsere Wünsche und Ziele.
Was passierte mit den Ergebnissen?
Wir haben sie zunächst den Führungskräften zur Kenntnis gegeben. Danach fassten wir – zum Schutz des Einzelnen – die individuellen textlichen Feedbacks der Mitarbeitenden zusammen. Anschließend versendeten wir alle Ergebnisse – die Auswertung der standardisierten Fragen und die zusammengefassten individuellen Feedbacks – nebst Interpretation und Darstellung erster Umsetzungen wieder an alle Kolleginnen und Kollegen.
Wie messen Sie den Erfolg der getroffenen Maßnahmen?
Das Feedback aus der Belegschaft war äußerst positiv. Besonders wegen der schnell spürbaren Maßnahmen. Um den Erfolg richtig messen zu können, bedarf es einer weiteren Umfrage. In der zweiten Jahreshälfte steigen wir wieder in die Phase unserer regulären Mitarbeiterbefragung ein. Da werden wir vorherige Prozesse, also auch die Corona-Befragung, aufnehmen und nach der Einschätzung fragen.
Das heißt, Mitarbeiterbefragungen sind bei der Lebenshilfe Gießen gang und gäbe?
Wir machen seit zehn Jahren Mitarbeiterbefragungen. Die letzte größere war zum Thema „Einführung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements“. Befragt wurden bislang aber immer nur einzelne Abteilungen.
Wie lauten die Ziele der kommenden Umfrage?
Es wird die erste sein, in der wir das gesamte Unternehmen mit 1.350 Beschäftigten zum gleichen Zeitpunkt befragen. Das geht dank der ausgefeilten und gleichsam individuellen Konzeption des Anbieters heute besser als früher. Wir möchten von den Beschäftigten wissen: Wie identifizieren sie sich mit dem Arbeitgeber? Wie sehen sie die Führung? Wie läuft Kommunikation im Team? Wie ist das Interesse an der eigenen persönlichen Weiterentwicklung? Wir wollen ein Gefühl dafür bekommen, wie zufrieden die Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz sind, und vor allem, was wir verbessern können.
Es wirkt, als jage eine Befragung die nächste … Verändert sich denn viel in der Zwischenzeit?
Erstens kann man immer besser werden. Keiner als Person oder Organisation ist perfekt. Zweitens ist es ein dynamischer Prozess: Rahmenbedingungen verändern sich ständig, in der Gesellschaft, in der Arbeitswelt; Führungskräfte und Teammitglieder wechseln. Es ist gut, sich regelmäßig Feedback einzuholen und zu sehen, wie Beschäftigte die aktuelle Situation wahrnehmen. Führung ist das A und O in einem Unternehmen, die Grundlage für Arbeitszufriedenheit und Motivation. Der Satz „Der Fisch stinkt vom Kopf“ kommt nicht von ungefähr.
Gibt es etwas, das Sie nicht gern lesen würden?
Mich würde es schockieren, wenn die Glaubwürdigkeit des Arbeitgebers, die Philosophie, das Leitbild infrage gestellt würde. Das wäre eines der schlimmsten Ergebnisse – nach dem Motto: Ihr schreibt euch nach außen was auf die Fahne, was nach innen gar nicht gelebt wird.
Gibt es seitens mancher Führungskräfte auch Bedenken gegenüber den Befragungsergebnissen?
Wenn Beschäftigte Führungskräfte anonym beurteilen, kommen nicht immer nur angenehme Resultate heraus. Deshalb binden wir unsere Führungskräfte ebenso wie den Betriebsrat bei der Konzeption von Anfang an mit ein. Gemeinsam legen wir fest, was und wie gefragt wird. Fragen zur Qualität der Führung bleiben enthalten.
Welche Konsequenzen sind denkbar?
Alle durch die Umfrage erkennbaren Punkte werden auf der jeweils zuständigen Ebene – von der Geschäftsführung bis zu den Teams – besprochen. Deutlich erkennbare Führungsdefizite thematisieren wir ergänzend und diskret mit dem/der Betroffenen. In Einzelfällen haben wir uns auch schon von Führungskräften getrennt. Aber da war das Ergebnis der Umfrage dann nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Wie bereiten Sie die Beschäftigten auf Befragungen vor?
Wir bieten Informationsveranstaltungen an. Dort stellen wir die Ziele dar, wie wir vorgehen und wie mit den Ergebnissen verfahren wird. Außerdem gibt es im Vorfeld ausführliche schriftliche Informationen.
Wichtig für die Belegschaft ist ja vor allem, dass nach einer Befragung Taten folgen.
Manches lässt sich schnell umsetzen, aber die komplexeren Dinge erfordern einen längerfristigen Prozess. Ich bleibe immer dran, auch bei den Ergebnissen der Corona-Befragung. Die Führungskräfte sind aufgefordert, mit ihren Mitarbeitenden offene Punkte zu besprechen. Darauf achte ich wiederum in meinen Gesprächen mit Führungskräften. Bei der großen Umfrage wird es so sein, dass die sich dort zeigenden Probleme und Herausforderungen anschließend in Workshops in den jeweiligen Teams behandelt werden. Allerdings auch nur da, wo es wirklich Bedarf gibt, denn wir wollen nichts unnötig aufblähen.
Wer sollte Ihrer Meinung nach eine Mitarbeiterbefragung durchführen?
Ich würde es jedem Unternehmen raten, das mindestens zehn Beschäftigte hat. Darunter wird es kritisch mit der Anonymität. Es gibt einfache Gratis-Tools im Internet, mit denen man kleine Umfragen selbst entwickeln kann. Gegenargumente von Chefs wie „Ich bin doch immer im Gespräch mit meinen Mitarbeitenden“, „Wir sehen uns in der Teeküche, ich mache da Small Talk“, „Meine Tür ist immer offen“ zählen für mich nicht. Sind wir doch mal ehrlich: Vieles von dem, was man denkt, sagt man dem Chef dann lieber doch nicht persönlich ins Gesicht.
Was erreichen Unternehmen mit dieser Methode?
Es geht um Wertschätzung und Wahrnehmung von Mitarbeitenden. Dass sie anonymisiert ihre Meinung sagen können. Dass mit den Ergebnissen etwas passiert, ist die notwendige Konsequenz. Wenn das zu einer höheren Mitarbeiterzufriedenheit führt, zu einer Verbesserung des Arbeitsklimas, zu einer besseren Führung, dann erreiche ich eine höhere Bindung ans Unternehmen. Die Mitarbeiter erzählen dann draußen: „Das ist ein toller Laden!“ Das trägt dazu bei, dass die eigene Firma attraktiver wird, man Fachkräfte hält und neue leichter gewinnt. Und man wird auf blinde Flecken aufmerksam. Je größer das Unternehmen ist, desto weniger bekommen Sie als Chef doch mit, was an der Basis läuft. Das war immer meine Motivation für Mitarbeiterbefragungen: blinde Flecken zu erkennen und sie zu beseitigen.
Welche Haltung der Geschäftsführung braucht es, um offen genug für eine Mitarbeiterbefragung samt Konsequenzen zu sein?
Kritikfähigkeit ist die wichtigste Voraussetzung: Kritik annehmen und damit umgehen zu können.