Ein Chef schafft sich ab

New-Work-Strukturen in einem Old-School-Handwerksbetrieb: Stephan Heiler hat in seiner mittelständischen Glaserei im badischen Waghäusel vor einigen Jahren den Mitarbeitenden die Macht im Unternehmen übertragen. Eine Revolution von oben, die fast gescheitert wäre.


01.09.2021 - Gunthild Kupitz -8 MinutenRichtig führen

New-Work-Strukturen in einem Old-School-Handwerksbetrieb – gibt es die überhaupt? Ja, die gibt es. Zum Beispiel bei der Alois Heiler GmbH, einer mittelständischen Glaserei im badischen Waghäusel. Dort hat Firmenerbe Stephan Heiler vor einigen Jahren seinen Mitarbeitenden die Macht im Unternehmen übertragen. Ein Gespräch über eine Revolution von oben, die fast gescheitert wäre.

Faktor A: Herr Heiler, Sie feiern in diesem Jahr Ihr zehnjähriges Jubiläum als Geschäftsführer. Seitdem arbeiten Sie beharrlich daran, diese Rolle abzuschaffen. Was ist Ihr Plan?

Stephan Heiler: Spätestens in fünf Jahren soll das Unternehmen von mir unabhängig sein – sowohl von mir als Geschäftsführer als auch als Inhaber. Dann soll die Belegschaft die Firma leiten. Eine Idee ist, sie in eine Art Genossenschaft umzuwandeln, eine andere, sie zu einer Gesellschaft in Verantwortungseigentum zu machen.

Warum wollen Sie überhaupt Ihr Unternehmen transformieren?

Wie viele klassische Mittelständler war mein Vater ein Patriarch. Dazu kam, dass er als Firmengründer fest davon überzeugt war, alles kontrollieren zu können. Dabei ist es für einen einzigen Menschen unmöglich, 70 Mitarbeitende, unterschiedliche Produktgruppen, Märkte und Länder zu überblicken, nicht nur strategisch die richtigen Entscheidungen zu fällen, sondern auch Ziele vorzugeben und anschließend zu kontrollieren, ob sie auch eingehalten werden. Das funktioniert ja schon rein rational gar nicht. Aber auch emotional ist diese hierarchische Art zu führen nichts für mich. Ich war nie der Typ, der gerne Macht ausübt. Und spätestens nach einer Management-Fortbildung in der Schweiz, bei der es um Zielvereinbarung, Reportings, leistungsbezogene Gehälter und solche Dinge ging, war mir klar, dass ich meinen eigenen Weg als Unternehmer finden muss, sonst würde mich das ziemlich sicher krank machen. Kurz darauf bin ich dem Unternehmensberater Gebhard Borck begegnet und hörte zum ersten Mal von eigenverantwortlich handelnden Mitarbeitenden, von Selbststeuerung und Demokratisierung. Ich begann zu ahnen, dass es für unser Unternehmen wichtig sein könnte, die Klugheit der gesamten Belegschaft zu nutzen, statt nur auf die Kompetenzen einiger Führungskräfte zu setzen.

2011 wurden Sie dann Geschäftsführer. Was hatten Sie vor?

Gebhard Borck und ich wollten aus unseren Abteilungsleitern und Nachwuchsführungskräften ein Changeteam bilden und sie für neue Formen der Führung und Zusammenarbeit begeistern. Aber Ende 2013, nach anderthalb Jahren und einem Dutzend Workshops, passierte genau das Gegenteil – der totale Boykott. Wir hatten zwar bemerkt, dass es kriselte. Aber wir hielten trotzdem an unserer Idee fest und versuchten es noch mal und noch mal. Wir waren einfach überzeugt, dass es wichtig sei, die Führungskräfte auf diese Reise mitzunehmen. Doch von Menschen, für die eine hierarchische Karriere gleichbedeutend mit Erfolg ist, zu verlangen, sich gegenteilig zu engagieren – das konnte nicht funktionieren. Klar, dass die Verlustängste hatten.

Und dann?

… wollte ich klären, ob die Belegschaft die Transformation überhaupt will – oder nur ich. Also haben wir Anfang 2014 alle Mitarbeitenden für zwei Tage in einem Hotel versammelt. Doch damit sie darüber entscheiden konnten, war maximale Transparenz nötig, und das hieß: Sämtliche Zahlen, Daten und Fakten mussten auf den Tisch. Unter anderem hatte ich dafür die Jahresabschlüsse der zurückliegenden 15 Jahre analysiert. Das Ergebnis: Der Umsatz war hoch, die Rendite seit einigen Jahren ziemlich unten, zeitweise nahe null. Für einen kleinen Mittelständler total ungesund. Das war der erste Schock. Der zweite war die extreme Fluktuation: Um zu wachsen, haben wir innerhalb von fünf Jahren 70 Mitarbeitende eingestellt. 50 von ihnen waren jedoch entweder von sich aus gegangen oder – und das waren sogar die meisten – wurden gegangen. Ganz offensichtlich war da etwas völlig schiefgelaufen. Und der dritte Punkt war eine relativ hohe Reklamationsquote.

Die Lage war also ernst, das haben wir auch so gesagt. Und auch, dass wir in Zukunft etwas anders machen müssen und wollen – und zwar gemeinsam mit ihnen. Dann haben wir ihnen die Grundprinzipien der Selbststeuerung erklärt, und dass dies bedeute, dass es in Zukunft keine Ansagen mehr von oben gäbe, auch nicht von mir, sondern dass sich alle Mitarbeitenden an den strategischen Themen intensiv beteiligen müssten. Anschließend habe ich gefragt, wer dabei mitmachen wolle. „Ihr könnt die Firma viel besser entwickeln als ich alleine“, habe ich gesagt, aber auch, dass ich ein Nein akzeptieren würde. In dem Fall würde ich mir einen Geschäftsführer suchen, der für mich als Inhaber Rendite erwirtschaften würde.

Teambild auf Treppe Heiler Glas Manufaktur
© André Bakker - Das Team der Heiler Glas Manufaktur kümmert sich um individuelle Glaslösungen für Kunden.

 

Wie hat die Belegschaft auf Ihr Angebot reagiert?

Etwa ein Drittel war von der Idee begeistert, ein weiteres Drittel zurückhaltend bis positiv, und bei dem dritten Drittel war vom Skeptiker bis „Jetzt hat der Stephan einen Vollschuss“ alles dabei. Doch die Mehrheit hatte sich für den Wandel entschieden. In einer weiteren intensiven Zweitagesveranstaltung teilten sich die Mitarbeitenden selbst in drei regional orientierte Marktteams auf, die dann für die Kunden und Aufträge in diesen Gebieten zuständig sein würden. Außerdem wurde ein Produktteam geschaffen und eines für Prozesse, Organisation und Information. Und schon am nächsten Tag wurde die neue Struktur eingeführt. Das ist ja der Vorteil von unserer Art zu arbeiten: Sobald ein Entschluss gefasst ist, wird er umgesetzt, denn bei der Entscheidungsfindung waren schließlich alle dabei.

Und die ehemaligen Führungskräfte? Wie haben die sich verhalten?

Stephan Heiler Portrait Mann draußen
© André Bakker - Stephan Heiler schreibt in seinem Blog über die Transformation seines Betriebes.

Von den ursprünglich sieben Führungskräften waren zu dem Zeitpunkt noch vier da, nach weiteren fünfzehn Monaten noch zwei junge Frauen, die als Nachwuchskräfte kleine Teams führten. Für sie war die Umstellung kein großer Verlust. Die Transformation begann allerdings sehr holprig: Ein ehemaliger Abteilungsleiter machte uns direkt vor der Haustür Konkurrenz, warb Mitarbeiter ab und nahm Kunden mit. Das war ziemlich unschön, stärkte aber das Gemeinschaftsgefühl zwischen den anderen. Trotzdem dauerte es Monate, bis die Mannschaft darauf vertraute, dass wir ihr tatsächlich die Verantwortung übertrugen. Dazu kam, dass es in der ersten Phase drunter und drüber ging: Wir mussten uns nicht nur gesundschrumpfen, sondern kurz nach dem Kick-off auch noch die Insolvenz einer Schwesterfirma verkraften, die für uns Glas hergestellt hatte. Dadurch waren wir gezwungen, neue Lieferanten zu suchen. Alles in allem ein ganz schön wilder Ritt. Doch auch danach gab es immer wieder Zeiten, in denen die Dinge so schlecht liefen, dass es kritisch wurde. Dennoch sind wir aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen, denn es gelang uns, wichtige Lehren daraus zu ziehen.

Welche Rolle fiel Ihnen in diesem Prozess zu?

Meine Aufgabe war es – und ist es immer noch –, die Mitarbeitenden wie ein Coach zu begleiten, ihnen Probleme bewusst zu machen und sie dabei zu unterstützen, Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Die Kommunikation, vor allem in der Anfangsphase, war dabei ganz entscheidend, denn unsere Belegschaft ist sehr heterogen. Die meisten hatten sich zuvor gar keine Gedanken über Unternehmenskultur, Führungsstil oder Eigenverantwortung im Unternehmen gemacht. Und auch ich musste meine neue Rolle entwickeln. Manchmal wollte ich noch in alter Manier einen Lösungsvorschlag machen, um eine Entscheidung zu beschleunigen oder gar zu erzwingen. Da half manchmal auch ein kleiner Tritt ans Schienbein unter dem Tisch von Seiten des Coaches.

Teambild vor Transporter Heiler Glas Manufaktur
© André Bakker - Das Team von Heiler Glasbau bearbeitet große Projekte für Bauträger oder Architekten

Und wer bestimmt nun bei Heiler, was gemacht wird?

Alltagsfragen wie beispielsweise „Sonderrabatt – ja oder nein?“ entscheidet die jeweils zuständige Person. Je größer und wichtiger ein Thema allerdings ist, desto größer ist auch die Gruppe, die darüber beschließt. Grundsätzlich wollen wir alle Betroffenen am Entscheidungsprozess beteiligen. Das Ergebnis muss dabei nicht einstimmig ausfallen – das gelingt vermutlich sowieso nie. Aber mit anderen Meinungen respektvoll umzugehen, ist ein wichtiger Teil des Entscheidungsprozesses.

Wie sieht es mit Einstellungen und Entlassungen aus? Wer ist dafür zuständig?

Seit fünf Jahren gibt es bei uns keine Führungskräfte mehr, seitdem kümmern sich die Teams selbst um die Personalangelegenheiten, was anfangs schwieriger verlief als erwartet. Da gab es den Fall einer Mitarbeiterin, die das Thema Verantwortung ernst nahm und sich gegen den Rat des ehemaligen Prokuristen für einen Bewerber entschied mit dem Hinweis: „Ich kümmere mich um seine Einarbeitung.“ Doch kurz vor Ende von dessen Probezeit kam sie zu mir und sagte: „Stephan, ich habe einen Fehler gemacht.“ Ihr großes Problem war, dass sie vor lauter Tagesgeschäft kein einziges der vorgesehenen Feedback-Gespräche geführt hatte. So schmerzhaft es für sie war, diese Kündigung auszusprechen: Ich bin überzeugt davon, dass das, was sie und das Team aus dieser Erfahrung gelernt haben, sehr viel nachhaltiger war, als es je durch eine Schulung möglich gewesen wäre.

Haben Sie selbst auch Fehler gemacht?

Sicher. Einer davon war, dass ich zu viel Zeit investiert habe, um die Führungskräfte von der Transformation zu überzeugen. Das würde ich heute nicht noch einmal so machen. Doch mein Bemühen, möglichst alle Mitarbeitenden auf diesen Weg mitzunehmen, war richtig und wichtig. Und ich bin überzeugt: Hätten wir den Umbau von einem hierarchischen Betrieb zu einer partizipativen Organisation nicht gewagt, gäbe es die Firma Heiler heute nicht mehr.

Zur Person

Stephan Heiler
Stephan Heiler, Noch-Geschäftsführer von Heiler-Glas in Waghäusel bei Karlsruhe, Jahrgang 1975, hat Industriekaufmann gelernt. Er stieg 1997 in die Firma ein und verantwortete ab 2001 Marketing und ab 2009 zusätzlich den Vertrieb. Sein Vater Alois Heiler hatte die Firma 1984 in Waghäusel gegründet. Er war einer der ersten Glasduschenproduzenten in Deutschland und von Beginn an spezialisiert auf Maßanfertigungen aus Glas – zu Beginn nur für Bäder, später dann auch für Büros und Wohnräume. 2012 übernahm Stephan Heiler das Familienunternehmen mit damals ca. 80 Mitarbeitenden. Seitdem ist er Geschäftsführer ­– inzwischen jedoch nur noch auf dem Papier. Denn Heiler hat vor sieben Jahren begonnen, den bis dahin traditionell hierarchisch aufgestellten Mittelständler zu transformieren. Sein Ziel: nicht nur die Führungskräfte, sondern auch sich selbst abzuschaffen. Stattdessen sollen die Mitarbeitenden in naher Zukunft die Firma eigenständig steuern. Gemeinsam mit dem Berater Gebhard Borck hat er über die Transformation ein Buch geschrieben: „Chef sein? Lieber was bewegen! Warum wir keine Führungskräfte mehr brauchen“ erschien beim Verlag Orgshop.
 

Serie New Work

Längst wird das Konzept New Work in traditionellen Betrieben in Mittelstand und Handwerk umgesetzt. In unserer Serie zeigen wir, was das Konzept beinhaltet und wie es kleine und mittlere Betriebe unterschiedlicher Branchen umsetzen.

Teil 1 | Home statt Office, Vertrauen statt Kontrolle – was heißt New Work?

Teil 2 | Sprinkenhof GmbH: wie ein öffentliches Unternehmen zum attraktiven Arbeitgeber wird

Teil 3 | Afilio, undpaul, New Work Life: mit flexiblen Arbeitsmodellen gutes Personal anlocken

Teil 4 | Glasmanufaktur Heiler: New Work im Handwerk