11.07.2018 - Nadine Osterhues -4 MinutenRichtig führen
Vor fünf Jahren schuf das Wiener Technologieunternehmen TELE Haase alle Chefposten ab und ließ die Angestellten vollkommen autark arbeiten. Geschäftsführer Markus Stelzmann erinnert sich an einen aufwendigen Prozess, der das Unternehmen von grundauf veränderte.
„Vor ein paar Jahren hatten wir ein Aha-Erlebnis. Wir fragten uns: Geht es eigentlich immer nur um Wachstum? Wohin wollen wir noch wachsen? Ist Umsatz das einzige Ziel? Diese Gedanken haben eine regelrechte Revolution ausgelöst. Wir stellten die klassischen Hierarchien zwischen Angestellten und Vorgesetzten infrage und beschlossen, unseren Mitarbeitern viel mehr Freiräume zu lassen. Wir wollten den Einzelnen in die Verantwortung ziehen, damit das kreative Potenzial im Unternehmen steigt. Wir waren überzeugt davon, dass nur so die richtigen Ideen entstehen, die uns wettbewerbsfähig halten – und gleichzeitig sinnstiftend für den Einzelnen sind. So wurde TELE Haase zur ,Firma ohne Chef‘ – und das war gut so.
Jahrelang war ich der klassische Geschäftsführer-Typ. Ich habe entschieden, unterschrieben, bestimmt. Wenn Mitarbeiter die Organisation in meinen Augen nicht genug unterstützt haben, habe ich ihnen gekündigt. Es gab viele Konflikte, und ich traf einige schwere Entscheidungen.
Zitat:„Ich entscheide nicht."
Heute sehe ich mich als Mitglied einer Organisation, so wie jeder andere Mitarbeiter auch. Mein Geschäftsführer-Büro wurde in einen Hub (Anm. d. Red.: Treffpunkt) umgewandelt, ich sitze jetzt im Großraumbüro neben unserer HR-Abteilung oder arbeite von zu Hause aus. Ich verhandle mit Banken, gründe Subunternehmen oder berate Mitarbeiter, wenn sie nicht weiterkommen. Ich entscheide nicht. Die Lösung eines Problems müssen sie selbst finden. Sie stehen in der Verantwortung für ihren Bereich. Das klappt mittlerweile so gut, dass ich auch mal länger verreisen kann, ohne Angst zu haben, dass alles den Bach heruntergeht. Aber das war ein Lernprozess.
Vertrauen, Transparenz und Impulse von außen
Unser Betrieb funktioniert heute so: Sieben Personal- und elf Prozessverantwortliche wuppen relativ autonom den Betrieb. Bei Gehaltsverhandlungen wird das jeweilige Personalbudget innerhalb der Personalverantwortlichen offengelegt. Wer qualifizierte Funktionen übernimmt, erhält mehr Geld. Es kommt aber auch auf die Tätigkeit und Rolle im Unternehmen an. Unsere rund 85 Mitarbeiterinnen haben Gleitzeitarbeit, und bis zu zwei Tage pro Woche ist Home Office möglich. Wir haben alles transparent gemacht. Die Mitarbeiter können betriebswirtschaftliche Zahlen locker im Intranet nachlesen. Das zeigt ihnen, dass wir ihnen vertrauen.
Wir schotten uns auch nicht mehr ab, sondern lassen uns stark von außen inspirieren. Deshalb stellen wir 15 Start-ups Räume zur Verfügung und kooperieren auch mit Universitäten. Impulse von draußen sorgen für einen regen Wissenstransfer. Sich als Unternehmen zu öffnen und vom Know-how anderer zu profitieren ist ein großes Ziel unserer Firma. Deshalb pflegen wir das Verhältnis zu unseren „Mitmietern“ und stellen ihnen unter anderem Fertigungsmaschinen zur Verfügung.
Zitat:„Wir haben 2,5 Millionen Euro Umsatz für die Veränderungen weggeschmissen."
Um es kurz zu sagen: Wir haben ungefähr 2,5 Millionen Euro Umsatz weggeschmissen für diese Veränderungen. Zu den grundlegenden Veränderungen gehörte nämlich auch, dass wir moralisch korrekt handeln. Wir lassen unsere Ware zum Beispiel nicht in Bangladesch produzieren, nur weil ein Kunde es billiger haben möchte. In den ersten Jahren sind wir finanziell erst mal abgestürzt. Es braucht Mut, ein Unternehmen so umzukrempeln. Jeder beäugt eine Firma kritisch, in der es keinen Chef gibt. Aber es hat funktioniert: In den letzten Jahren haben wir große Gewinne geschrieben.
Förderung von Eigenverantwortung
Die Verwandlung war auch psychologisch kein Kinderspiel. Für manche Mitarbeiter war es schwer, den Job, den sie 20 Jahre gemacht haben, nun vollkommen eigenverantwortlich zu erledigen. 30 Prozent der Kollegen waren nicht gemacht für diesen Schritt und haben das Unternehmen verlassen. Ich bin überzeugt davon, dass das Thema Eigenverantwortung viel zu wenig gefördert wird in unserer Gesellschaft. Das fängt schon in der Schule an: Da geht es immer noch viel zu stark ums Funktionieren statt ums eigenständige Denken.
Auch Unis generieren oft nur Spezialisten. Dabei brauchen wir Mitarbeiter, die auch weltoffen, interessiert, neugierig und gespannt auf die Zukunft sind. Wir brauchen mehr Generalisten. Menschen, die sich dazu entscheiden, sinnhaft zu wirken. Bei uns ist es so: Wenn es unserer Firma nicht gut geht, schläft nicht nur die Geschäftsführung schlecht, sondern die ganze Belegschaft. Dann wird gemeinsam an einer Lösung gearbeitet. Die Mitarbeiter haben sich verändert. In den letzten fünf Jahren arbeiteten sie aktiv an einer Entschuldung des Unternehmens. Das macht uns stolz und zeigt, dass unser Weg richtig war. In Zukunft möchten wir sie am Unternehmen beteiligen. Ich bemerke viel mehr Stolz und Selbstständigkeit bei ihnen.