13.06.2016 - Esther Werderinghaus -4 MinutenRichtig führen
Jungen Führungskräften fällt es nicht immer leicht, ohne Erfahrung eine Gruppe von Menschen zu leiten. Doch mit etwas Geduld und Empathie kann fast jeder in die Rolle des Chefs hineinwachsen.
„Danke, Herr Stolz, Sie haben Talent!“ Schwuppdiwupp steht Oliver Stolz, 27, vor einer verantwortungsvollen Rolle: Sechs erfahrene Mitarbeiter blicken zu dem frisch diplomierten Ingenieur, der zwar nicht „echt“ befördert wurde – das geben die Strukturen in dem kleinen Betrieb für Elektrozubehör gar nicht her –, der aber Verantwortung für ein ganzes Team übernehmen soll. Zum ersten Mal. Das war vor 14 Jahren. Damals war es bei Weitem nicht sein primäres Ziel, unbedingt Chef zu werden, sagt der inzwischen promovierte Physiker. Er hatte eher fachliches Interesse.
Und trotzdem ging es für den heute 41-Jährigen immer weiter nach oben auf der Karriereleiter. Heute ist er Führungskraft bei der ISRA VISION AG, einem global agierenden Hightechunternehmen für sehende Systeme aus Darmstadt, wo er ein Team von 15 Mitarbeitern in der Abteilung für Hardwareentwicklung leitet. Vielleicht hätte er vorher gar nicht gedacht, dass er das mal sagen würde: „Führung ist lernbar, und man sollte vor dem Sprung ins kalte Wasser nicht zu viel Angst haben.“
Als junger Chef die Kollegen kennen
Stolz gehört zu den Nachwuchskräften, die in Zeiten des Personalmangels händeringend gesucht werden: Absolventen aus den geburtenschwachen Jahrgängen, top ausgebildet, rar an der Zahl. Kommt jemand wie Stolz in ein Unternehmen, ist die Beförderung inklusive Personalverantwortung ein Dankeschön für hervorragende Leistungen und eine Investition in die Zukunft. Doch dem Nachwuchs mangelt es oftmals nicht nur an fachlicher Erfahrung, sondern vor allem an Führungsverständnis.
Ein Vorteil für Führungskräfte, die manchmal schneller als erwartet in ihre neue Position rutschen, ist es, die Kollegen zu kennen. So empfand es jedenfalls Stolz. Er hatte zuvor auf einer Ebene mit ihnen gearbeitet, sie persönlich kennengelernt und sich auch mit den Strukturen des Unternehmens auseinandersetzen können. Das Verhältnis zwischen ihm und seinen Kollegen habe sich durch den Rollenwechsel daher kaum geändert.
Schulungen wahrnehmen
Als Führungskraft hat Stolz sehr viel über sich selbst gelernt – etwa, sich mit seinen Stärken und Schwächen einzuschätzen. „Ich bin zum Beispiel eher perfektionistisch“, sagt er. Es stärkt ihn, dabei zu wissen, dass er daran arbeiten kann. Das Unternehmen bot ihm schon vor der Beförderung psychologische Schulungen an, in denen der Physiker nicht nur lernte, wie man Mitarbeitergespräche führt, Meetings leitet, sich selbst organisiert oder seine Mannschaft motiviert, sondern vor allem viel über das Rollenverhältnis zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten erfuhr. „Höre deinen Mitarbeitern zu“ ist für ihn eine noch heute wichtige Weisheit. „Man kann zuhören und den Mitarbeiter verstehen oder zuhören und nur glauben zu verstehen“, erklärt er. Das scheint ihm heute zu gelingen.
Vielen fällt das offenbar schwerer. Angehende und junge Führungskräfte in den Chefetagen großer Unternehmen sind laut einer Umfrage der Personalberatung Kienbaum besonders häufig von Stürzen betroffen. Es mangelt den Überfliegern an Soft Skills, sie scheitern aufgrund ihrer Selbstüberschätzung. An der Uni haben sie nicht gelernt, selbstkritisch zu sein. Da gehörten sie aufgrund ihrer Leistungen zu den Besten, und dieses Niveau wollen sie halten, auch als Chef. Aber wie geht es richtig? Kann man Führen überhaupt in kurzer Zeit lernen?
Hinter dem Team stehen
„Nein“, sagt Stolz, „das ist ein Prozess, den man annehmen und wollen muss. Ich musste in die neue Rolle hineinwachsen und lerne laufend dazu“ – etwa bei der Steuerung von wachsenden Teams an verschiedenen Standorten in In- und Ausland. Seine Mitarbeiter, mit denen er täglich über verschiedene Kanäle kommuniziert, sitzen in Berlin, Istanbul, Karlsruhe und Darmstadt. Er sieht sich als Chef, der hinter der Mannschaft steht, nicht als Vorgesetzter, der von oben herab Anweisungen gibt. Eher macht er Vorgaben, lenkt, wenn es in die falsche Richtung geht. In Teambesprechungen treten zum Beispiel auch mal Meinungsverschiedenheiten auf.
Diese Diskussionen müsse man aushalten, auch wenn es lauter wird. „In der Regel verläuft alles auf einem fachlich sehr hohen Niveau“, erklärt er, „dabei geht es nicht ums Kräftemessen, sondern um eine konstruktive Leidenschaft für das Fachliche.“ Die Experten würden dabei versuchen, die beste Lösung für die Entwicklung eines Produkts zu finden. Solchen manchmal auch kontroversen Diskussionen Raum zu geben, zahle sich aus. Wie im letzten Jahr. Da wurde ISRA der Innovationspreis der deutschen Wirtschaft verliehen – für ein Produkt, an deren Entwicklung Stolz mit seiner Abteilung beteiligt war.