03.02.2021 - Annette Vorpahl -7 MinutenRichtig führen
Mobbing und Bossing gehören in vielen Unternehmen zum Alltag. Dabei kann es sich keiner leisten. Eigentlich. Oft ist der Psychoterror sogar Chefsache. Was können Betroffene tun, was Kollegen und Kolleginnen sowie Führungskräfte?
Wann es anfing, fällt rückblickend schwer zu sagen. Als er jeden Morgen von Büro zu Büro ging, die Kollegen und Kolleginnen begrüßte und sie übersah? Als er „vergaß“, sie zu Sitzungen einzuladen? Als sich seine cholerischen Anfälle häuften? Stefanie P.* dachte sich zunächst nichts weiter dabei und schob es auf seine oft schlechte Laune. Motiviert und voller Elan hatte die Juristin und Karrierefrau vor ein paar Wochen ihre neue Stelle in dem mittelständischen Wirtschaftsprüfungsunternehmen angetreten. Sie hatte sich schnell eingearbeitet und zu den meisten Mitarbeitenden einen guten Kontakt geknüpft. Die „Zurückhaltung“ des Chefs und Firmeninhabers ihr gegenüber hatte sie auf die Tatsache geschoben, dass sie neu war. „Der will sicherlich erst mal gute Arbeitsergebnisse sehen, bevor er zugänglicher und freundlicher wird“, dachte sie sich. Und so legte sie sich noch mehr ins Zeug, arbeitete meist als eine der Letzten im Büro, oft auch am Wochenende. Aber ihr Chef wurde nicht freundlicher. Im Gegenteil.
Nicht hübsch genug
Als Stefanie P. ihn nach einem Jahr bat, endlich auch Kundenkontakte wahrnehmen zu dürfen, fauchte er sie an: „Um Kundenkontakt zu haben, sind Sie nicht hübsch genug.“ Beschämt zog sich die 40-Jährige zurück. Der Chef wies ihr Arbeiten zu, die deutlich unter ihrem Niveau lagen. Als bessere Sekretärin beschränkte sie sich auf Organisationsaufgaben fürs Team. Sie erinnert sich: „Wenn junge männliche Kollegen im Betrieb anfingen, die frisch von der Uni kamen, lobte der Chef sie vor mir: ,Die haben’s drauf. Die können was.‘“ Die verbalen Attacken ihres Vorgesetzten häuften sich. Das verunsicherte Stefanie P. mehr und mehr. Stressbedingt machte sie Fehler. Irgendwann zweifelte sie an ihren Fähigkeiten: „Hat der Chef vielleicht recht? Bin ich meinen Aufgaben nicht gewachsen?“ Ihre Kollegen und Kolleginnen waren gespalten: Eine Hälfte stand hinter ihr. Sie trösteten Stefanie P., wenn wieder mal Tränen flossen. Die andere Hälfte duckte sich weg. Mit dem Chef sprach niemand.
Wenn Menschen am Arbeitsplatz über einen längeren Zeitraum gezielt und systematisch mit Intrigen, Schikanen, Beleidigungen und Benachteiligungen konfrontiert sind, spricht man von „Mobbing“. Der Begriff (aus dem Lateinischen: mobile vulgus = aufgewiegelte Volksmenge) ist nicht geschützt. Laut Verdi sind rund 1,8 Millionen Menschen hierzulande davon betroffen. In mindestens der Hälfte der Fälle sei der Vorgesetzte verantwortlich oder beteiligt. Im Gegensatz zu Ländern wie Schweden, Finnland und Frankreich gibt es in Deutschland kein „Anti-Mobbing-Gesetz“ und keine speziellen gesetzlichen Regelungen für Mobbing am Arbeitsplatz. Wenn es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommt, muss deshalb auf allgemeingültige Rechtsnormen zurückgegriffen werden.
Hilfe in der Beratungsstelle
Die finden sich unter anderem im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das allerdings von Diskriminierung statt von Mobbing spricht und dazu folgende Merkmale kennt: Alter, Geschlecht, Behinderung, ethnische Herkunft, Religion & Weltanschauung sowie sexuelle Identität. Nur wenn ein Betroffener aufgrund einer der genannten Gründe Nachteile erleidet, kann er sich auf das AGG berufen. Andernfalls geben Grundgesetz und Betriebsverfassungsgesetz verbindliche Leitlinien vor. Der Arbeitgeber hat Mobbing zu unterbinden, gegen Hetzer vorzugehen und die Pflicht, alles zu tun, um Mobbing im Unternehmen zu verhindern. Sonst verletzt er seine Fürsorgepflicht. Diese Unterlassung erfüllt laut Paragraf 223 Strafgesetzbuch den Tatbestand der Körperverletzung und kann mit einer Geldstrafe, in schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet werden. Doch für Betroffene ist der Rechtsweg steinig und wer ihn ging, erhielt vielleicht Schmerzensgeld, der seelische Schaden aber bleibt.
Erste Anlaufstellen für Geschädigte sind Betriebs- und Personalräte, der Vorgesetzte, sofern er nicht selbst am Mobbing beteiligt ist, oder Beratungsstellen wie die Mobbing-Kontaktstelle Frankfurt Rhein-Main. 165 Anrufe gingen dort 2019 ein, von einem Drittel Männer und zwei Dritteln Frauen. Die meisten Opfer waren 30–45 Jahre alt, knapp gefolgt von den 45–55-Jährigen. Sie kamen vor allem aus dem Dienstleistungsgewerbe (Finanzen und Versicherungen), dem sozialen Sektor (Pflege und Kindertagesstätten), Industrie und Handwerk sowie aus der Verwaltung.
Plötzlich passieren komische Dinge
Mobber sind sehr erfinderisch, was das Spektrum ihrer Handlungen angeht: Da ziehen die Kolleginnen und Kollegen jeden Morgen aufs Neue über die Kleidung der Betroffenen her; ITler sabotieren den älteren Nebenmann, indem sie ihm immer wieder den Stecker am PC ziehen; eine junge Frau wird vom Vorgesetzten in Grund und Boden geschrien, dem Autofan der Lack zerkratzt; ein neuer Chef verordnet dem Team, der erfahrenen Sekretärin Informationen vorzuenthalten, um sie im Anschluss zur Rede zu stellen, warum sie dies oder jenes nicht erledigt hat. Sein Motiv: Er will sie loswerden.
Die Folgen der Corona-Pandemie erweitern die Möglichkeiten der Ausgrenzung und Demütigung noch: So klagen Menschen im Homeoffice, dass sie von Informationen ferngehalten werden. Kollegen und Kolleginnen tauschen sich über Messengerdienste aus, ohne die ganze Abteilung einzubeziehen. Im Betrieb erntet ein Mitarbeitender regelmäßig scharfe Kritik, wenn er ohne Maske durch den Gang läuft, während sich die anderen Teammitglieder stets ohne Mund- und Nasenschutz anlächeln.
Grundsätzlich werden zwei Arten von Mobbing-Handlungen unterschieden: auf der Arbeitsebene, wenn beispielsweise sinnlose Tätigkeiten angeordnet, Arbeitsergebnisse unterschlagen, Fähigkeiten von Mitarbeitenden infrage gestellt werden. Auf der sozialen Ebene spricht man von Mobbing, wenn ein Mensch wie Luft behandelt wird, ständig Anspielungen fallen oder wenn nur noch getuschelt wird, kaum dass ein und dieselbe Person den Raum betritt. Immer zielen Mobber auf die Schwachstellen ihrer Opfer ab.
Was Mobbing begünstigt
„Als sich mein Chef in seinem Büro bedrohlich vor mir aufbaute, brüllte und mir grundlos den Urlaub strich, dämmerte mir, dass es hier um mehr als den normalen Stress ging“, erzählt Stefanie P. Der monatelange Psychoterror war ihr längst auf den Magen geschlagen: Sie bekam eine Gastritis und fiel wochenlang aus. Das Ausmaß der Mobbing-Folgen hängt einerseits von der Dauer und Intensität der seelischen Misshandlung ab, andererseits von der persönlichen Veranlagung. Nur eins ist sicher: Kalt lässt die empfundene Ohnmacht niemanden. In einem Mobbing-Gesprächskreis fand Stefanie P. Unterstützung von Gleichgesinnten. „Das Gefühl, nicht allein zu sein, hat mir damals sehr geholfen.“ Stefanie P. verstand: „An mir liegt es nicht. Es kann jede und jeden treffen.“
Bis heute kann sie sich nicht erklären, warum es der Chef auf sie abgesehen hatte. Antipathie, Konkurrenz, Frust, Inkompetenz, falsch verstandener Ehrgeiz, Missgunst: Die Motive der Mobber sind so vielfältig wie ihre Handlungen. Hinzu kommt ein Mobbing begünstigendes Klima im Unternehmen: Wenn Beschäftigte nur als Kostenfaktor behandelt werden, weshalb sollten die Kolleginnen und Kollegen untereinander sorgsam miteinander umgehen? Darüber hinaus ermöglichen den kalten Krieg am Arbeitsplatz eine fehlerhafte Arbeitsorganisation mit häufigem Personalmangel, Mitarbeitende, die ihre Fähigkeiten nicht einbringen können, ein autoritärer Führungsstil und Konflikte, die nicht offen ausgetragen werden. Eine weitere Variante ist Mobbing als Methode zum Personalabbau. Hinzu können äußere Faktoren kommen, wie eine angespannte Arbeitsmarktsituation. Ein Sündenbock ist schnell gefunden. Und rollt die Schlammlawine erst einmal, finden sich schnell Mitstreiter.
Großer Schaden für Unternehmen
Bei jeder Form von Mobbing handelt es sich um ein Totalversagen von Arbeitgeber und Kollegenschaft. Denn jeder Mobber ist nur so stark, wie es die Vorgesetzten und Mitarbeitenden zulassen und wie ernst der Arbeitgeber seine Fürsorgepflicht nimmt. Eigentlich kann sich kein Unternehmen Mobbing leisten. Es verursacht immense Kosten durch Fehlzeiten sowie verminderte Leistung – und für die Gesellschaft durch die Folgeerkrankungen bis hin zur dauerhaften Arbeitsunfähigkeit. Gemobbte sind häufiger krank, weniger motiviert und weniger produktiv. Verdi schätzt den jährlichen volkswirtschaftlichen Schaden, den Mobbing verursacht, auf 15 bis 25 Milliarden Euro. Jahr für Jahr werden durch Mobbing leistungsfähige und arbeitswillige Menschen aus der Arbeitswelt gedrängt – bei gleichzeitig dahinscheidendem Erwerbspersonenpotenzial und trotz Fachkräftemangel.
Die Alarmglocken sollten schrillen, wenn die Fluktuation und der Krankenstand hoch sind. Von 1997 bis 2019 nahmen die Arbeitsunfähigkeitsfälle (AU-Fälle) aufgrund psychischer Erkrankungen in Deutschland unter Frauen um 186 Prozent und unter Männern um 197 Prozent zu. Das ist die auffälligste Entwicklung der letzten Jahre. Psychische Erkrankungen sind laut Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK) die drittwichtigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit. Mobbing-Opfern bleibt oft nur Versetzung oder der Verlust des Arbeitsplatzes (durch Kündigung, Dauerkrankschreibung, Frühverrentung). Und manchem droht danach der soziale Abstieg.
Stefanie P. galt dem Chef bald nur noch als problematische und unzuverlässige Angestellte. Er drohte ihr mit Abmahnung, dann Kündigung. Doch die Juristin war schneller. Sie verließ das Unternehmen nach drei Jahren Drangsal und fand schnell eine neue Stelle – im Gepäck die Erfahrungen des alten Jobs. Rückblickend sagt sie: „Problematisch war vor allem das Tabuisieren und Ignorieren des Problems von allen Seiten. Ich achte jetzt auf kleinste Anzeichen von Ungerechtigkeit in meiner Umgebung und spreche das an, auch wenn es um andere geht.“
*Name von der Redaktion geändert