Brauchen wir Digitalisierung? Wenn ja, wie viel?

Alle reden von Digitalisierung, ihrem Einfluss auf die Zukunft der Arbeit und welche Schritte man jetzt gehen müsse. Aber wohin führen diese Schritte? Sechs Szenarien.


09.11.2016 - Jochen Brenner, Pia Bublies -6 MinutenZukunft der Arbeit

Alle reden von Digitalisierung, von ihrem Einfluss auf den Arbeitsmarkt der Zukunft und der Wichtigkeit, jetzt die richtigen Schritte zu gehen. Aber was passiert, wenn diese Schritte (nicht) gesetzt werden? Sechs Zukunftsvisionen als verständliche Infografik.

Was würde passieren, wenn Unternehmen mal besonders wagemutig, mal besonders konservativ auf die Zukunft zugehen? Wie könnten die Rahmenbedingungen für Menschen, Unternehmen und die Politiker aussehen, wenn die Digitalisierung in Deutschland weiter Fahrt aufnimmt und Politiker und Unternehmer mal besonders offensiv und mal besonders abwartend vorgehen?

Was wäre wenn?

Technologie- und Arbeitsexperten haben im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung sechs Szenarien entwickelt, die ein sehr differenziertes Bild von den Auswirkungen der Digitalisierung zeichnen: von Deutschland als global erfolgreichem Exporteur digitaler Industriegüter mit bedingungslosem Grundeinkommen über einen Staat mit wenig Berufschancen außerhalb stark vernetzter Metropolen bis zu einer Welt, in der es zwar ausreichend Arbeit gibt, jedoch jeder auf sich allein gestellt ist.

 

Szenario 1
© Pia Bublies

Szenario 1: Deutschland 4.0

Technischer Fortschritt:
Ganz Deutschland ist mit Glasfasernetzen ausgestattet. Große Datenmengen gelangen in Sekundenbruchteilen von A nach B.

Innovationfaktor:
Hoch! Die Unternehmen haben auf die Anforderungen der Industrie 4.0 reagiert, sich erfolgreich umgestellt und so ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten.

Arbeitsmarkt:
Projektarbeiter in Festanstellung sind der Regelfall. Der Arbeitsmarkt steht jedoch unter hohem Druck, da wegen der hohen Technisierung der Produktion die Nachfrage nach Facharbeitern sinkt.

Soziale Sicherung:
Nach einer Reform des Sozialgesetzbuches wurde ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt.

Wahrscheinlichkeit:
Mittel bis hoch. Doch die kommenden Jahre entscheiden darüber, wie realistisch dieses Szenario wirklich ist. Nehmen die Unternehmen die Herausforderungen der Digitalisierung an? Sind sie bereit, Zeit, Energie und Geld zu investieren? Und wie viel Unterstützung erhalten sie dabei von der jeweiligen Regierung?

Szenario 2
© Pia Bublies

Szenario 2: Wohlstand durch Wissen

Technischer Fortschritt:
Die digitale Infrastruktur in den Städten ist am Limit angekommen, auf dem Land aber ist der Ausbau mit Glasfaserkabeln weit vorangeschritten. Die wirtschaftliche Dominanz der Metropolen schwindet.

Innovationfaktor:
Mittel. Nur wenige Unternehmen ist es gelungen, ein funktionierendes und wettbewerbsfähiges digitales Geschäftsmodell zu entwickeln. Der Mittelstand hat sich der Entwicklung fast ganz entzogen. Wichtige Player wie Automobilhersteller und Maschinenbauer sind zwar weiterhin umsatzstark und erfolgreich, aber nur, weil sie Automatisierungstechnologien digitaler Marktführer aus den USA und Asien importiert und umgesetzt haben. Ihre volkswirtschaftliche Bedeutung in puncto Arbeitsplätze haben sie allerdings eingebüßt. Banken und Versicherungen sind die neuen wirtschaftlichen Großmächte der „New Digital Economy“.

Arbeitsmarkt:
Der Arbeitsmarkt ist fragmentiert und undurchlässig. Wissensarbeiter profitieren, aber die Nachfrage nach einfachen Tätigkeiten ist fast vollständig eingebrochen. Geringqualifizierte haben keine Lobby.

Soziale Sicherung:
Die Sozialsysteme stehen vor dem Kollaps, weil die technologisch abgehängte, analoge Old Economy ihre Arbeitnehmer der Babyboomer-Generation in den üppig ausgestatteten Vorruhestand geschickt hat und zunehmend auf Outsourcing von Arbeit setzt.

Wahrscheinlichkeit:
Mittel. Zwar sind digitale Geschäftsmodelle in den industriellen Kernbranchen wie Automobil und Maschinen noch längst nicht alleine überlebensfähig, die Bemühungen der Akteure zeigen jedoch erste Erfolge. Hier wird entscheiden, mit welcher Konsequenz die Unternehmen künftig vorgehen. Je eher die Menschen in Deutschland Aus- und Weiterbildung beruflich als überlebenswichtigen Faktor erkennen, desto leichter lässt sich die Fragmentierung des Arbeitsmarktes verhindern.

Szenario 3
© Pia Bublies

Szenario 3: Total Digital

Technischer Fortschritt:
Highspeed-Internet gibt es jetzt überall. Deutschland ist eine durchdigitalisierte Industrienation. Jeder, dessen Geschäftsmodell auf Daten setzt, muss sich um die Infrastruktur keine Sorgen machen.

Innovationfaktor:
Sehr hoch. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit hat sich sogar noch erhöht. Das „Internet der Dinge“ ist längst kein Novum mehr, sondern Alltag in den Betrieben. „Made in Germany“ hat einen neuen Beiklang bekommen: digital innovativ. Nur im Mittelstand gibt es noch etwas Aufholbedarf.

Arbeitsmarkt:
Selbständigkeit ist das vorherrschende Arbeitsmodell. Die Nachfrage nach flexiblen Kräften mit unterschiedlicher Expertise hat sich enorm erhöht. Unterstützt hat diese Entwicklung der Gesetzgeber durch Steueranreize und Bürokratieabbau. Der Arbeitsmarkt zeigt sich stabil und entwickelt sich positiv.

Soziale Sicherung:
Soziale Absicherung ist nur rudimentär ausgestaltet, aber für jeden erreichbar.

Wahrscheinlichkeit:
Eher gering. Von den technischen Voraussetzungen ist Deutschland aktuell noch ein ziemliches Stück entfernt. Zudem ist die Annahme, sozialversicherungspflichtige Jobs in so großer Zahl in selbständige Tätigkeiten einfach umwandeln zu können zu optimistisch.

Szenario 4
© Pia Bublies

Szenario 4: Alles beim Alten

Technischer Fortschritt:
Glasfaser? Ist immer noch die Ausnahme in Deutschland. Unternehmen wählen ihren Standort nach dem Kriterium, wie gut der Breitbandausbau vor Ort ist, was gerade ländliche Gebiete immer weiter nach hinten wirft.

Innovationfaktor:
Niedrig, Deutschland lebt von der Substanz. Ein paar Branchen der Old Economy prosperieren und halten mit Mühe dem internationalen Wettbewerb stand.

Arbeitsmarkt:
Der Arbeitsmarkt ist unflexibel und seit Jahren unverändert. Langjährige Festanstellungen überwiegen. Die Politik hat zwar in einigen Bereichen die Digitalisierung der Wirtschaft unterstützt, jedoch können gerade ländliche Regionen nicht profitieren. Außerhalb großer Städte wird die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften immer geringer.

Soziale Sicherung:
Die Rentenkassen stehen unter hohem Druck, das Sozialversicherungssystem droht zu kollabieren. Eine echte Alternative hat niemand.

Wahrscheinlichkeit:
Nicht ganz unwahrscheinlich.

Szenario 5
© Pia Bublies

Szenario 5: Das Land der verschiedenen Geschwindigkeiten

Technischer Fortschritt:
Die Bundesländer haben die Herausforderungen des digitalen Wandels sehr unterschiedlich interpretiert. Einzelne Regionen verfügen jetzt über Hochgeschwindigkeitsnetze, andere hängen mit dem Ausbau weit hinterher, mit ungünstigen Folgen für die Wirtschaft.

Innovationfaktor:
Hoch – im Prinzip! Wenn man in der richtigen Ecke Deutschlands wohnt. Die deutsche Wirtschaft hat die Herausforderungen der Industrie 4.0 begriffen, wobei jedoch der Erfolg der industriellen Transformation in den Bundesländern sehr unterschiedlich ist. Bayern kämpft mit Sachsen um die besten Talente, Hamburg mit Baden-Württemberg.

Arbeitsmarkt:
Hoch qualifizierte Wissensarbeiter können sich ihre Jobs aussuchen und arbeiten vor allem als Selbstständige mit guten Honoraren. Politischen Einfluss haben noch die Bundesländer, der Bund wird von Brüssel dominiert. Nachgefragt werden auf dem Arbeitsmarkt vor allem Hochqualifizierte, für alle anderen ist die Nachfrage deutlich gesunken.

Soziale Sicherung:
Die neuen Arbeitsmodelle bedeuten, dass selbstständige Mitarbeiter sich selbst absichern müssen, wodurch viel weniger Arbeitnehmer in die Sozialsysteme einzahlen. Gleichzeitig sind mehr Menschen denn je auf sie angewiesen. Die Grundsicherung für alle wird deswegen zunehmend steuerfinanziert.

Wahrscheinlichkeit:
Gar nicht mal so gering. Die Unterschiedlichkeit der Regionen wird schon jetzt immer mehr zum Erfolgsfaktor. Der Länderfinanzausgleich steht auf der Kippe. Die sehr unterschiedlich gelagerten Interessen der Bundesländer machen es auf Bundesebene heute schon schwer, zu Einigungen zu kommen.

Szenario 6
© Pia Bublies

Szenario 6: Digitale Apokalypse

Technischer Fortschritt:
Fortschritt? Gibt es nicht. Deutschland 2030 ist auf dem Stand von 2016 und gilt damit im internationalen Vergleich als digitales Entwicklungsland. Von Wettbewerbsfähigkeit kann keine Rede mehr sein.

Innovationfaktor:
Null. Wie auch sonst? Im Bundestag sitzt seit zwei Legislaturperioden die Partei „Die Analogen“, die erfolgreich gegen den digitalen Wandel agiert. Ihr gelingt es, eine technikfeindliche Stimmung im Land zu provozieren. Volksentscheide gegen Weiterentwicklungen und bessere Netze sind regelmäßig erfolgreich.

Arbeitsmarkt:
Wer Arbeit hat, ist in einem Normalarbeitsverhältnis, wie es sie heute schon lange gibt. Durch den konjunkturellen Einbruch entwickelt sich der Arbeitsmarkt in allen Segmenten entsprechend schlecht. Die Gehälter sind auf einem niedrigen Niveau.

Soziale Sicherung:
Auf niedrigem Niveau gibt es sie noch, doch ihre Tage sind gezählt. Experten rechnen mit einem Ende innerhalb der kommenden fünf Jahre. Schon jetzt wachsen die Staatsschulden in ungesunde Höhen, um wenigstens ein minimales Niveau halten zu können.

Wahrscheinlichkeit:
Unwahrscheinlich. Hoffentlich!


Titelfoto: © Pia Bublies